Grüner Daumen
Vera Sturm
Das Überleben hängt von einer Pflanze ab, mit deren Samen alle Probleme gelöst werden könnten. Sie steht kurz vor der Blüte. Wie gut ist der grüne Daumen deiner Lieblingsfigur?
„Schnell, kommt. Sie stirbt!“, kreischte Kim und raufte sich die Haare. Sie war leichenblass und hatte weit aufgerissene Augen.
„Wer stirbt?“ Hatte ich das gerade richtig verstanden?
„Du hast doch Erfahrung damit“, wimmerte Kim weiter.
„Mit Sterben?“ Nun war ich vollends verwirrt.
„Doch nicht du!“
„Kim, sag mir, was los ist. Du machst mir echt Angst.“ Ich reichte ihr ein Taschentuch, in das sie geräuschvoll ihre Nase entleerte.
„Es …“, sie schnäuzte, „… geht …“, gefolgt von einem kläglichen Schluchzen, „… um meine M-m…“
Augenblicklich begriff ich ihre Verzweiflung. Diese Nachricht war mehr als erschreckend. „Oh nein, Kim, du Arme.“ Tröstend legte ich ihr meinen Arm um sie. „Das tut mir so unendlich leid, dass deine Mum …“
Irritiert hob sie ruckartig den Kopf, hörte auf zu schluchzen und guckte mich an. „Wieso meine Mum? Ist etwas mit ihr?“
„Äh, du hast doch gesagt, sie stirbt.“ Einerseits war ich erleichtert, dass es anscheinend nicht der Fall war, jedoch schlauer wurde ich dadurch nicht.
„Ich meinte, meine Mango stirbt bald – meine Pflanze. Sie lässt die Blätter schon hängen. Sie sieht gar nicht gut aus.“
„Deine Mango?! Meine Güte, Kim, du hast mir gerade den Schreck meines Lebens eingejagt mit deiner Heulerei!“ Nun war ich doch etwas sauer.
„Das wollte ich nicht.“ Peinlich berührt vergrub sie einen Moment ihr Gesicht in den Händen. „Vera, bitte, hilf meiner Pflanze. Du hast doch diesen grünen Daumen. Berühre sie, damit es ihr besser geht. Ich hab höchstens einen blauen Daumen, wenn ich mit dem Hammer den falschen Nagel treffe. Mehr Farben habe ich nicht zu bieten.“
„Kim, so funktioniert das nicht. Ich bin nicht Jesus“, gab ich ihr lachend zu verstehen. Wir konnte ich ihr je böse sein, wenn sie danach wieder so dümmlich süß war?
„Nicht? Ich dachte, das geht so. Schließlich hast du doch viele Pflanzen, die allesamt voll schön sind“, ließ sie mich an ihren Gedanken teilhaben.
„Aber ich fasse sie nicht einfach an. Pflanzen brauchen Licht, Wasser und Liebe.“
„Liebe?“ Kim guckte verdutzt. „Wie soll ich mit meiner Pflanze …“
„Warte, warte!“, unterbrach ich sie direkt. „Sprich bitte nicht weiter. Hast du deine Pflanze im Licht stehen?“
„Ja.“
„Gibst du ihr regelmäßig Wasser?“
„Ja.“
„Gehst du liebevoll mit ihr um? Also redest du vielleicht mit deiner Pflanze?“
„Ich singe ihr vor“, meinte sie.
„Das wird es vermutlich sein“, sprach ich meine Gedanken versehentlich laut aus.
„Was?“
Ups, das hatte ich nicht sagen wollen. „Vielleicht singst du die falschen Lieder?“, versuchte ich, mich herauszureden.
„Ich singe mein Lied.“ Kim hatte vor einiger Zeit das Lied Dancing with you geschrieben, das es sogar ins Radio geschafft hatte. Nein, daran konnte es nicht liegen. Es musste einen anderen Grund haben.
„Zeig mal deine Pflanze. Wenn ich sie sehe, weiß ich vielleicht, was sie hat.“ Eine andere Lösung wusste ich gerade nicht.
Kim nickte und kam kurz darauf mit einer großen Pflanze zurück.
„Kim, du olle Nudel, das ist ein Gummibaum!“, brach es lachend aus mir heraus.
„Also doch keine Mango“, stellte sie enttäuscht fest.
„Nein und nein. Sie ist weder eine Mango, noch echt. Deine Pflanze ist im wahrsten Sinne des Wortes ein Gummibaum. Sie ist aus Plastik!“ Ohne dass ich es wollte, überkam mich ein Lachanfall, den ich nicht mehr zurückhalten konnte.
Kim lachte nicht. Sie schaute nur mich, dann enttäuscht ihr Plastik-Gewächs an. „Und ich hatte mich schon gewundert, wieso das Wasser nie aufgesaugt wird.“
„Kim, du bist echt ein Phänomen. Ich bin nur froh, dass nicht unser Überleben davon abhängt. Wäre diese Pflanze echt gewesen, hättest du sie sicher noch ins Grab gebracht.“
„Ins Grab? Gräber sind doch auch bepflanzt“, überlegte Kim.
„Kim!“ Gerade merkte ich wieder einmal, wie hoffnungslos manche Diskussionen mit Kim sein konnten. Da gab es nicht einmal mehr den sprichwörtlichen grünen Zweig …