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Lese- & Hörproben

Der Ruf der Grizzlybären
01: Das große Abenteuer

Prolog

Lachend  rannte der junge Grizzlybär durch den Wald, wobei er sich immer wieder  umblickte. Eine kleine Gruppe Hasen jagte ihm hinterher und war ihm  dicht auf den Fersen.

Wie  so oft spielten sie zusammen – ein Grizzlybär und ein paar Hasen. Doch  ihre Freundschaft muss ein Geheimnis vor seinem Vater bleiben, denn es  würde gefährlich für die Hasen werden, wenn der Vater sie fände. Da er  sehr gerne Nager fraß, würde er nicht lange zögern.

Vor  einem Jahr hatte der Jungbär sie kennengelernt und sich durch ein, fast  schon lustiges, Missgeschick mit ihnen angefreundet. Die Hasen hatten  ihn gerettet. Gerettet aus einer Situation, die ganz und gar nicht  bärenhaft gewesen war.

Doch dieses Erlebnis machte sie unzertrennlich.


Kapitel 01: Frühlingsanfang

Die  Sonne schien vom blauen Himmel. Ihre warmen Strahlen durchdrangen den  Boden und die Kälte der langen Wintertage wich langsam. Es war endlich  wieder Frühling und die ersten Blumen steckten ihre Köpfe aus der Erde.  Fliegen summten und tanzten im Licht der Frühlingssonne fröhlich umher.  Alle kleinen und großen Tiere des Waldes erwachten und wurden ins Freie  gelockt.

Die  Vögel zwitscherten laut, sodass ein Konzert des Frühlings durch den  Wald schallte. Ein Igel polierte seine Stacheln. Er war sehr eitel und  wollte immer gut aussehen. Seine Verwandten machten sich darüber jedes  Mal lustig, wenn sie ihn sahen, denn er übertrieb es maßlos.

Ein  großer Grizzlybär, der aus seiner Winterruhe erwachte, gähnte und  räkelte sich, als hätte er hundert Jahre geschlafen. Er rappelte sich  träge auf und trottete zum Eingang seiner Höhle. Der eitle Igel bemerkte  ihn leider zu spät. Er lief zu nahe an der Behausung vorbei, was ihm  letztlich zum Verhängnis wurde. Der Bär nutzte die Gelegenheit,  entfernte ihm einen Stachel und verwendete diesen als Zahnstocher. Ein  kurzes, schmerzhaftes Ziehen durchzuckte den Körper des Igels. Vor  Schreck rannte er schnell und wütend davon.

Mit  sauberen Zähnen trottete der Grizzlybär zurück in seine Höhle, um einen  Kamm hervor zu hohlen. Er hatte ihn aus einem robusten Ast angefertigt.  Damit kämmte er ausgiebig sein Fell. Durch den langen Schlaf war es  verknotet und verfilzt.

Anschließend  lief er zu einem kleinen Fluss, wusch sich den Kopf und trank reichlich  vom klaren Wasser. Als er gekämmt und sauber vor seiner Höhle in der  Sonne saß, hörte er ein lautes Rumpeln in der Nähe. Verärgert drehte er  sich und sah sich um.

Wer wagte es, ihn zu stören?

Doch er sah er weit und breit niemanden, der den Lärm hätte verursachen können.

Ein  aufgebrachtes Warzenschwein, das sich in die Nähe des Eingangs wagte,  grunzte laut: „Kaum ist dieser Fettwanst auf den Beinen, macht er einen  Lärm, dass einem die Warzen platzen und man meinen könnte, die Höhle  stürzt gleich ein.“ Es rannte schnell wieder davon, um nicht die Wut des  Bären zu spüren zu bekommen.

„Man sieht sich immer zweimal im Leben!“, rief der Bär, doch das Schwein war bereits außer Hörweite.

Erst  jetzt bemerkte er, dass sein Bauch laut grummelte. Er stieg auf einen  Baum, der in der Nähe stand, und verscheuchte die Vogelmutter, die sich  darin breit gemacht hatte. Er nahm sich die drei Eier heraus. Diese  ließen ihn aufstoßen und ein „Börb!“ verließ gurgelnd seine Kehle. Er  streichelte zufrieden seinen durch den Winter dünn gewordenen Bauch und  beschloss, einen Spaziergang durch den Wald zu machen um noch mehr  Futter zu suchen.

Entschlossen lief er los.

Nach  einiger Zeit kam er an den Rand einer Lichtung, verließ sie jedoch,  nachdem er sie betreten hatte, und ging zurück in den Wald. Das  Vogelgezwitscher, das den Wald mit sanften Klängen erfüllte, ließ ihn  aufhorchen. Er hatte sich den ganzen Winter über danach gesehnt. Der  gewaltige Bär stand regungslos da und lauschte den Gesängen.

Er  genoss den Frühling. Kleine Triebe mit winzigen Blättern ragten aus dem  sonst kargen Waldboden heraus. Ein frischer Duft von neuer Energie, die  der Frühling bringt, legte sich über den Wald und breitete sich aus.

Hin  und wieder knirschte etwas Schnee, der noch nicht geschmolzen war,  unter seinen Pranken. Kleine Eichhörnchen sprangen von Ast zu Ast und  suchten fleißig nach den Nüssen, die sie im Vorjahr vergraben hatten.  Allerdings fanden sie ihre Ausbeute meistens nicht wieder. Dafür würde  an dieser Stelle eine neue Pflanze wachsen.

Der Grizzly schaute sich um und atmete die frische Luft tief ein.

Als  er am Bau der Hasen vorbeikam, trampelte er wild darauf herum. Einige  Gänge stürzten unter seinem Gewicht ein. Erde und kleine Steine  rieselten herunter und versperrten einen Ausgang. Er machte sich einen  Spaß daraus, den Bau zu zerstören. Durch den langen Winter war er  gehässig und gemein geworden. Er fasste mit seiner Pranke in das Loch  und zog ein kleines zitterndes Hasenkind heraus. Ohne lange zu überlegen  stillte er seinen Hunger mit ihm.

Zwar  hatte er ein schlechtes Gewissen, doch der Hunger war größer und er  wollte mehr. Erneut streckte er suchend seine Pranke hinein. Doch  diesmal hatte er keinen Erfolg. Er tastete in die Leere.

Durch  die Erschütterungen aufgeschreckt kam die Hasenmutter empört aus dem  Bau gehüpft. Auf diese Gelegenheit hatte er gewartet. Der Grizzly wollte  sie fangen und ebenfalls fressen. Aber diese wusste sich zu wehren und  biss ihm in seinen dicken Stummelschwanz. Bevor er reagieren konnte,  verschwand sie blitzschnell im Eingang des Baus.

Ein  weiteres kleines Häschen spickte aus einem Loch, doch die Mutter rief:  „Zuckerschnute, geh schnell in den Bau!“, und das Kleine wollte  geschwind zurückschnellen, doch der Bär war schneller. Nur die  Hasenmutter erwischte er nicht mehr.

Anfangs  war der Bär wütend, doch er wollte es dabei belassen, denn die Häsin  war ein starker Gegner. Für ihre geringe Körpergröße hatte sie eine  große Gegenwehr geleistet.

Als  er weiterlief, kam er an einem hohen Baum vorbei, auf dem ein alter  Rabe hauste. Er war schon älter und nicht sehr beliebt bei den anderen  Waldbewohnern, da er sehr frech und ungehobelt war. Auch der Grizzly  konnte ihn nicht leiden.

„Kra!  Kra! Der fette Nachbar ist aufgewacht“, krächzte der Rabe frech wie  immer. „Hey, Dickerchen, bist du wieder fit?“ Da er sich in weiter  Entfernung befand und sich deswegen in Sicherheit wähnte, nahm er kein  Blatt vor den Schnabel.

„Lach  du nur, du aufgeblasenes Federvieh. Eines Tages werde ich dich in meine  Pranken bekommen. Ich werde dich mit Haut und Haaren … äh, Federn  verschlingen“, grollte der Bär. Doch dieser Versprecher nahm seinen  Worten die Bedrohlichkeit. Fast schon lächerlich klang es.

„Nicht mal sprechen kann er!“, spottete der Rabe. „Nicht mal sprechen!“

„Bei  meinem lausigen Fell, hau doch ab“, fluchte er und lief genervt weiter.  Einen schönen Frühling stellte er sich anders vor. Ruhig und ohne  aufdringliche Raben.

„Wahrlich, ein lausiges Fell scheinst du zu haben!“

In  der nächsten Sekunde kam der schwarze Vogel im Sturzflug herab und  pickte nach dem Bären. Dieser schlug nach ihm, erwischte den frechen  Kerl jedoch nicht. Mehrmals verfehlte er ihn knapp. Der Rabe war einfach  zu schnell für den massigen Körper des Bären.

Laut krächzend flog er schließlich davon.

Der Bär überwand seinen Groll und lief weiter, doch ganz beruhigt hatte er sich nicht.

Wumm!

Er  knallte mit einem gewaltigen Rumpeln auf den Boden. Nachdem er sich  umgesehen hatte, stellte er fest, dass er auf einer Nacktschnecke, die  eine schleimige Spur hinter sich herzog, ausgerutscht war. Natürlich war  sie jetzt nicht mehr als ein kleiner, matschiger Schleimhaufen.

Der  Grizzly rappelte sich wieder auf, wischte sich angeekelt das  durchsichtige Sekret von seinen Pranken und ging weiter. Nun jedoch mit  dem Blick ab und zu auf dem Boden gerichtet, damit ihm das nicht noch  einmal passieren würde.

Und  tatsächlich: Nur wenige Minuten später kroch eine weitere Schnecke über  den Weg, auf die er beinahe getreten wäre. Er hob seine rechte  Vorderpranke und stieg mit einem großen Schritt über sie hinweg. Dann  sah er durch seine Vorderbeine hindurch nach hinten, um sicher zu gehen,  dass er auch wirklich unbeschadet die Schnecke übersteigen konnte.

Problemlos  überstieg er das kleine Weichtier. Sein Frühlingsanfang hätte so viel  entspannter sein können. Ohne Schnecke und ohne Rabe.

Nach  kurzer Zeit stieg ihm ein köstlicher Geruch in die Nase. Er hob seinen  Kopf und entdeckte ein großes Bienennest in der Krone eines Baumes.  Seine Nase zuckte und er reckte sich in Richtung Himmel. Das Wasser lief  ihm im Maul zusammen – Honig! Dies war die Lieblingsspeise des Bären.

Den ganzen Winter hatte er davon geträumt, frischen Honig zu essen.

Es  gab nichts Schöneres für einen Bären. Doch etliche Versuche, an das  Nest zu gelangen, scheiterten. Schließlich rüttelte er so lange am Stamm  des Baumes, bis es herunterfiel und die Bienen herausflogen.

Während  des Fluges drehte es sich dummerweise und landete verkehrt herum auf  seinem Kopf. Brüllend vor Entsetzen versuchte er es loszuwerden. Er  drehte und wandte sich, doch das Nest klebte beharrlich. Erst nach  entsetzlich langen Minuten gelang es ihm, seine surrenden  Honiglieferanten abzuwimmeln, die sich noch in ihrem Nest befunden  hatten. Zerstochen und verklebt kam er wieder zum Vorschein.

Achtundvierzig Stiche zählte er. Allein schon fünfzehn auf seiner empfindlichen Nase.

Er schleckte gierig den süßen Honig aus dem Nest heraus und warf es anschließend achtlos fort.

Glücklich, den Honig gefressen zu haben, lief er weiter.


Kapitel 11: Kleiner Bär, großer Fang

Es  waren seit Onkel Grizzys Besuch drei Jahre vergangen, in denen sich die  beiden Grizzlys immer besser verstanden hatten. Sie hatten eine größere  Höhle entdeckt, in der sie wohnten.
Es war wieder Frühling und Toby und Shira erwachten aus ihrer Winterruhe.
Müde blinzelte Shira und sah sich suchend um. Sie schien etwas zu suchen – oder besser gesagt – jemanden.
„Ist Rico schon wach?“, fragte Shira verschlafen.
Toby rappelte sich mühsam hoch und gähnte. Nachdem er sich geschüttelt  und gestreckt hatte, war er wacher. „Ich werde nach ihm sehen.“ Er  streckte sich erneut, stand auf und verließ verschlafen die Höhle.  Beinahe wäre er gegen die Wand gelaufen, doch er machte einen kleinen  Satz und stand im Freien.
Der frische Frühlingsduft und das sanfte Gezwitscher der Vögel empfingen  ihn, sodass er sich wacher fühlte. „Rico, wo bist du, mein kleiner  Schlawiner?“, rief Toby.
„Hier oben, Papi, auf der Höhle“, vernahm er eine leise Stimme.
Entsetzt sah er den kleinen Jungbären auf der Höhle sitzen, der seine  Schnauze in die warmen Strahlen der Sonne streckte. Toby eilte auf die  Höhle.
„Rico“, ermahnte er streng, „ich habe dir doch gesagt, dass du nicht auf die Höhle darfst!“, tadelte er.
„Aber Papi“, winselte Rico, „ich bin doch schon fast zwei Jahre alt.“
„Nichts da! Geh runter zu Mama!“
„Na gut. Immer musst du mir die schönsten Momente verderben!“, nörgelte  er und hoffte, dass sein Vater ein schlechtes Gewissen bekommen würde.  Als er unten ankam, lächelte Shira ihn liebevoll an.
„Na, mein kleiner Frühaufsteher. Wie lange bist du schon wach?“
„Seit gestern, aber da habe ich nur gedöst und war nicht draußen. Und  nenne mich nicht mein Kleiner! Ich bin größer als der Igel“, murrte  Rico. „Habt ihr etwas zum Fressen? Ich habe Hunger. Heute Morgen habe  ich ein paar Grashüpfer gemampft, aber davon merke ich überhaupt nichts  mehr. Und das Fangen war anstrengender als gedacht. Dafür hat es aber  Spaß gemacht.“
„Nein, mein Kleiner. Da musst du schon selbst etwas Schönes fangen. Es  gibt für dich keine Milch mehr. Diese Zeit ist vorbei“, erklärte Toby,  der gerade in die Höhle getrottet kam.
Kochend vor Wut schrie Rico: „Ich bin nicht klein!“, und rannte wütend ins Freie.
Wann verstanden es seine Eltern endlich? Rico fand, dass er bereits groß  genug war. Groß genug, um allein auf die Höhle zu klettern, doch auch  das verbot sein Vater ihm.
Toby kicherte leise in sich hinein und legte sich hin. Shira war auch noch nicht richtig wach und döste ebenfalls ein bisschen.
„Shira, weißt du, warum Rico so ausgerastet ist?“, fragte Toby irgendwann.
„Er möchte nicht mehr, dass wir ihn mein Kleiner nennen. Ich weiß, er  ist zwar noch klein, aber unnötig ärgern will ich ihn nicht. Dasselbe  würde ich dir auch empfehlen.“
„Aber er wird immer mein Kleiner bleiben“, entschied Toby. Er wollte  nicht verstehen, wie sich Rico fühlte. Sein Sohn war erst zwei Jahre alt  und reichte ihm an seinen Bauch heran. Da war es schwer zu begreifen,  dass er nicht mehr klein war.

„Mami, Mami, komm schnell her“, rief Rico aufgeregt. Er stand vor einem  tiefen Loch, das er am Vortag gegraben hatte. Er hatte seine erste Falle  gebaut und damit einen tollen Fang gemacht: einen kleinen Nager. Es war  ein gut genährtes Exemplar, das wild herumzappelte. Doch nun traute  sich Rico nicht, seine Beute herauszuholen oder zu ihm zu klettern, weil  er noch ängstlich im Loch herumsprang. Shira wusste auch nicht weiter  und bat Toby um Hilfe.
Als Toby am Loch angekommen war und den Fang erblickte, freute er sich.  Anerkennend schlug er Rico auf die Schulter. „Hast du das allein  gegraben?“
„Ja“, entgegnete Rico stolz, „ich hatte doch gestern den ganzen Tag Zeit.“
„Ich dachte, du hast die ganze Zeit nur gedöst?“
„Unter anderem. Außerdem habe ich in der Höhle Wurzeln gebunkert, die  ich ausgegraben und gesammelt habe. Ich habe sie extra für Mami  gesammelt und für dich, Papi, habe ich das Loch gegraben, in dem jetzt  dieser Nager sitzt. Er ist für dich!“, erklärte Rico freudestrahlend.
„Für mich?“, freute sich Toby.
„Ganz allein für dich. Ich will natürlich auch etwas davon. Von den Wurzeln und von meinem Fang!“, fügte er eilig hinzu.
„Auf jeden Fall.“ Shira nickte. „Schließlich hast du alles gesammelt.“  Da hatte Rico sie doch tatsächlich vorhin veralbert, doch das nur aus  guter Absicht. Da konnte sie nur schmunzeln. Liebevoll nahm sie ihren  großen Sohn in die Arme.
Toby beugte sich nach vorne und griff nach dem Tier. Schnell zog er es  heraus und setzte sich grinsend daneben. Er wusste nicht, was er machen  sollte.
„Du weißt gar nicht, wie stolz ich auf dich bin, mein Kl…“ Schnell  unterbrach er sich. Beinahe hätte er „mein Kleiner“ gesagt. Doch  stattdessen sagte er: „Mein Klasse-Sohn! Die Idee mit dem Loch war  einzigartig. Die hätte von mir sein können. Das hast du wirklich gut  gemacht.“
„Danke, Papa.“
„Bekomme ich auch ein Stück?“ Shira blicke hungrig auf das Nagetier und  dann wieder zu Rico und Toby. Ungeduldig wartete sie die Antwort ab.
Rico und Toby sahen sich kurz an, nickten und sagten dann wie aus einem Mund: „Na klar doch!“
„Danke, ihr zwei.“
Als Toby und Rico nicht aufpassten, hatte Shira fast das ganze Fleisch  aufgefressen. An einem Nager wurde ein Grizzlybär nicht satt. Schon gar  nicht drei Grizzlys.
Entsetzt schrie Toby auf. „Halt! Dir gehören doch diese Wurzeln!“, meinte er und betonte Shiras Mahlzeit abfällig.
„Mrrr! Die gibt es auch noch! Daran habe ich gar nicht mehr gedacht!“,  murrte Shira wütend und gleichzeitig ziemlich eifersüchtig.
Sie hätte gerne noch etwas von diesem leckeren Fleisch gefressen. Im  Winter hatte sie davon geträumt und jetzt lag es vor ihr. Und dann  durfte sie es noch nicht einmal komplett fressen.
Bei meinem grummelnden Magen! Nur, weil ich eine Wurzelsammlerin aus  Leidenschaft bin und sie wirklich gerne mag, muss ich diese Dinger jetzt  fressen und Rico und Toby bekommen Fleisch!, jammerte sie im Stillen.  Na gut, dafür habe ich auch einiges davon bekommen. Der Rest ist für  Rico und Toby. Davon sollten sie satt werden. Ich will eigentlich keine  Tiere mehr fressen, erinnerte sie sich selbst. Aber gut war‛s!

Der Ruf der Grizzlybären
Kleiner Bär, große Freundschaft

Kapitel 01: Aus dem Schlaf erwacht

Rico,  der kleine Grizzlybär, saß vor der Höhle und ließ sich die ersten  Sonnenstrahlen des Tages in sein Gesicht scheinen. Seine Eltern  schliefen noch tief und fest. So beschloss er, seine Freunde, die Hasen  zu besuchen. Diese besondere Freundschaft zwischen ihnen musste er  geheim halten, denn würde sein Vater sie entdecken, war die Gefahr groß,  dass er sie als seine Mahlzeit sah.

Rico  schlich leise davon und entfernte sich zügig von der Höhle. Als er weit  genug gelaufen war, begann er zu rennen. Er jagte seinen Schatten, der  ihm vorauseilte. Die noch sehr tief stehende Sonne tauchte den Wald in  ein magisches Licht, das die Pflanzen zu erleuchten schien.

Als  er den nahe gelegenen Fluss erreichte, trank er reichlich. Und wie ein  anständiger Bär es machen musste, wusch er sich auch seine Pranken und  den Kopf. Das hatte ihm sein Vater einmal beigebracht. Da er natürlich  ein anständiges Bärchen war, wusch er sich gewissenhaft. Nun war er  bereit, um seine Freunde zu besuchen.

Erneut  vergewisserte er sich, dass ihm seine Eltern nicht gefolgt waren. Er  blickte sich um und war allein. So lief los und summte eine kleine  Melodie vor sich hin, die ihm in den Kopf gekommen war. Das Zwitschern  der Vögel hatte er schon oft nachmachen wollen, doch es war ihm nie  gelungen. So hatte er seine eigenen Laute erfunden, die er von sich gab.  Das Brummen und Brüllen beherrschte er zwar auch – wenn auch noch lange  nicht so gut wie sein Vater –, doch seine eigenen Laute gefielen ihm  noch besser.

„Guten  Morgen, liebe Vögel“, rief er in die hohen Bäume, die weit über ihm  ragten. Die melodischen Klänge der Vögel drangen als Antwort an seine  Ohren. Glücklich ließ er seine eigenen Laute erklingen.

„Guten  Morgen, Wald“, begrüßte er auch seine Umgebung, die er so liebte. Die  Bäume schienen sogar zu antworten, denn sie raschelten mit ihren  Blättern, was Rico als die Stimme der Bäume wahrnahm. Er freute sich  immer, wenn er allein und ungestört durch den Wald laufen konnte.  Unbeschwert und sorgenlos, wie er es schon immer getan hatte.

Rico,  der inzwischen schon drei Jahre alt war, genoss noch immer die frühen  Stunden des Tages, wenn seine Eltern noch schliefen und er ungestört die  Gegend erkunden konnte.

Noch  vor wenigen Tagen hatte er, eng an seine Eltern gekuschelt, Winterruhe  gehalten. Doch das war nun endlich vorbei und er war wieder wach. Das  neue Frühjahr konnte beginnen. Er war bereit dazu. Bereit dazu, seine  Freunde zu besuchen, mit ihnen zu spielen und im Wald zu toben. Den  ganzen Winter über hatte er davon geträumt, nun sah er sie endlich  wieder. Er konnte es kaum erwarten.


Kapitel 02: Bei den Hasen

„Hallo,  Rico, du Langschläfer.“ Hopelina, das einzige Mädchen unter den Hasen,  die schon lange mit Rico befreundet waren, winkte ihm freudig zu.

„Ich  bin kein Langschläfer!“, beschwerte sich der kleine Bär, doch er musste  zugeben, dass er deutlich länger als die Hasen schlief. „Wo sind all  die anderen?“ Suchend schaute sich Rico nach den anderen Hasen um, doch  er konnte sie nirgends finden.

Beschämt  wandte die junge Häsin den Blick ab. „Sie … sie schlafen noch. Aber sie  haben keine Winterruhe gehalten, wie du! Sie sind einfach so  Faulpelze!“ Den letzten Teil hatte sie absichtlich lauter gesagt. Kurz  darauf erschienen bereits die Näschen ihrer Brüder am Eingang des Baus.  Als Faulpelze wollten sie sich nämlich nicht bezeichnen lassen.

„Wer  nennt uns Faulpelze?“, empörte sich Hops. Er sprang hinaus ins Freie.  Als er den jungen Grizzly entdeckte, begrüßte er ihn freudig. Hops und  Rico waren die besten Freunde. Sie hatten am meisten zusammen  unternommen und auch schon das ein oder andere Mal die Geschwister  reingelegt.

„Niemand.  Ich bin auch gerade erst aus meiner Winterruhe aufgewacht. Meine Eltern  schlafen zum Glück noch. Sonst könnte ich hier nicht so einfach  auftauchen. Da hätte ich viel vorsichtiger sein müssen“, erklärte Rico.  Auch die Hasen wussten um die Gefahr, die von Toby, Ricos Vater,  ausging.

„Unsere  Mama schläft noch“, erklärte Hopedix erleichtert. Er war von Natur aus  ängstlich und fürchtete sich sogar manchmal vor seiner eigenen Mutter,  die sehr temperamentvoll war. Als kleinen Hasen hatten ihm herabfallende  Blätter einen so großen Schrecken eingejagt, dass er sich mehrere Tage  nicht mehr aus dem Bau heraus getraut hatte. Doch inzwischen war das  anders. Blätter konnten ihm keine Angst mehr einjagen.

„Habt  ihr Lust, etwas zusammen zu spielen? Ich habe den ganzen Winter davon  geträumt. Jetzt kann ich es kaum abwarten.“ Rico tippelte voller  Vorfreude auf der Stelle herum.

„Klar,  wir haben es auch vermisst, mit dir zu spielen“, meinte Hops und  grinste über das ganze Gesicht. „Wie wäre es mit Eichelkönig? Wir haben  extra auf dich gewartet, denn ohne dich macht es keinen Spaß mehr.“

„Schon  klar“, empörte sich Rico, „aber auch nur, weil ich jedes Mal gewinne!“  Bei diesem Spiel verloren nämlich alle freiwillig, da die „Ehre“ des  Gewinners es war, in der nächsten Runde der Schiedsrichter zu sein. Das  war eine ebenso ermüdende wie endlose und langweilige Aufgabe, die  keiner gerne übernahm.

„Könnte  noch jemand die Regeln erklären? Nur um sicherzugehen, dass ich nicht  versehentlich doch gewinne. Wir haben es schon so lange nicht mehr  gespielt“, fand Jammerhop, der ohnehin an allem etwas zum Aussetzen  fand. Vor allem bei diesem Spiel zu gewinnen, würde ihm mehr Potenzial  zu meckern geben, als seine Geschwister verkraften konnten. Daher  vermieden sie es weislich, ihn gewinnen zu lassen. Denn auch, wenn das  gegen die Regeln war, suchte sich der Schiedsrichter am Ende meist  wahllos irgendeine Eichel aus.

Der Ruf der Grizzlybären
Abenteuer in der Arktis

Kapitel 01: Die Eisberg-von-Tau-Schule


Wal-Taxi

Eisi  stand am schneebedeckten Ufer und sah hinaus aufs Meer. In der Ferne  erblickte er eine Wasserfontäne, die einige Meter in die Luft schoss.  Als sie näher kam, erkannte der junge Eisbär sein Wal-Taxi, das ihn zum  Unterricht abholte.

Das riesige Säugetier schwamm gemächlich an ihn heran und Eisi landete nach einem kleinen Sprung sicher auf dessen Rücken.

„Guten  Morgen“, grüßte der Wal fröhlich und schwamm los. Eisi begrüßte ihn  ebenfalls. Mittlerweile hatten sie sich angefreundet. Eisi machte es  sich auf dem breiten Rücken bequem. Der Wal schwamm vorbei an  Eisschollen, Packeis und kleineren Eisstücken, die sich von den großen  Eisbergen gelöst hatten.

„Man  sagt, dass ein Eisberg kalbt, wenn ein bisschen Eis abbricht“, erklärte  Eisi. Der Wal lobte ihn, denn das hatte er dem Schüler am Tag zuvor  erklärt. Lange hatte er es sich nicht merken können.

„Sehr gut. Dann weißt du schon mehr als gestern.“

„Danke.“  Eisi verzog das Gesicht. „Aber findest du nicht, dass sich das komisch  anhört? Er kalbt … nein, irgendwie klingt das seltsam. Das hört sich  fast so an, als bekäme er ein Kind, doch er lebt nicht einmal.“

„Tja,  daran kann man nichts ändern. Ich kann dir nur sagen, dass es so heißt,  und nicht, warum. Da bin ich selbst mit meinem Wissen am Ende. Und ich  bin sehr schlau.“

Eisi  musste lachen. Er mochte diesen Wal wirklich sehr, denn er war  freundlich und wusste immer, wann der richtige Zeitpunkt für einen  geeigneten Scherz war.

Bald  darauf kamen sie an einem großen und flachen Eisberg, der  Eisberg-von-Tau-Schule, an. Der Lehrer, ein erfahrener Eisbär namens  Herr Schorle, wartete bereits und begrüßte freudig seinen Schüler.  Allerdings war diese überschwängliche Freude nicht beidseitig. Eisi  lächelte lediglich kurz, ehe er sich von seinem Wal-Taxi verabschiedete.

„Bis später, Eisi.“ Mit einem tiefen Walgesang tauchte der Wal unter und verschwand im eisigen Meer.


Unter Wasser

„Heute  wollen wir lernen, wie man unter Wasser jagt.“ Der Lehrer grinste bis  hinter beide Ohren. Er schien sich sehr darauf zu freuen.

„Ich  kann noch nicht so lange die Luft anhalten“, jammerte Eisi, „und ich  muss es lernen, ich will es nicht!“ Doch das brachte nichts. Herr  Schorle gab ihm einen Schubs von hinten und der kleine Eisbär fiel mit  einem lauten Platsch ins kristallklare Wasser. Sofort spürte er die  eisige Kälte auf seiner Haut, die trotz des dichten Fells deutlich  spürbar war. Prustend und hustend tauchte Eisi wieder auf und schnappte  nach Luft. Verärgert trieb er an der Wasseroberfläche und sah seinen  Lehrer grimmig an.

„Und?  Klappt es mit dem Luftanhalten?“ Lachend sprang dieser hinterher und  tauchte neben Eisi auf. „Wir beginnen mit einer kleinen Übung: Wir  tauchen beide für fünf Sekunden unter und du atmest tief durch deine  Nase aus.“ Schon war Herr Schorle verschwunden.

Eisi  verdrehte die Augen. Schon klar, dass ich unter Wasser nicht einatmen  soll. Da bleibt mir nur das Ausatmen übrig, wenn ich die Luft nicht  komplett anhalte!

Widerwillig folgte er seinem Lehrer.

Eisi  holte tief Luft und tauchte kurz darauf zu ihm hinunter. Seine Augen  weit geöffnet, sah er einen Schwarm Fische in einiger Entfernung an  ihnen vorbeischwimmen. Eisi wollte glücklich nach Luft schnappen, doch  stattdessen sog er eine Ladung Wasser in seine Nase und paddelte  hektisch an die Wasseroberfläche, an der er nun hustend und schnaubend  ruderte. Das salzige Wasser brannte fürchterlich in seiner Lunge und er  versuchte vergeblich durch häufiges Kopfschütteln, es aus seiner Nase  herauszubekommen. Bis in den Hinterkopf brannte es.

„Na, da müssen wir noch einiges üben“, lachte Herr Schorle, der neben ihm auftauchte.

„Das merke ich selbst!“ Eisis gute Laune war inzwischen vollends erloschen und er starrte missbilligend seinen Lehrer an.

„Dann  ist gut. Komm, wir gehen vorerst wieder an Land.“ Mit diesen Worten zog  er sich mit Leichtigkeit auf den Eisberg und Eisi folgte ihm;  jedenfalls versuchte er es. Hilflos schwamm der Jungbär vor dem Eisberg  auf und ab, doch es gelang ihm nicht, die glatten Eisstufen zu  erklimmen. Mehrere Male schlug er seine Krallen tief ins Eis, doch er  fand keinen Halt. Der Lehrer streckte ihm die Pranke entgegen und Eisi  ergriff sie dankbar.

„Uff,  bist du aber schwer!“ Herr Schorle stöhnte kurz, während er den jungen  Eisbären auf den Eisberg zog, auf dem er einige Kratzspuren hinterließ.  Spätestens nach dem nächsten Schneefall würden diese verschwunden sein.

„Ich  bin nicht schwer! Das ist das doofe Wasser in meinem Fell“, beschwerte  sich Eisi und stand triefend neben seinem Lehrer, der ihn amüsiert  musterte.

„Warum sind kleine Bären eigentlich so süß, wenn sie wütend sind?“, kicherte er.

„Ich bin nicht süß!“, knurrte Eisi empört. „Und auch nicht klein!“


Schnee-Kunde und Eis-Kenntnisse

„Jetzt  machen wir noch ein bisschen Schnee-Kunde“, entschied der Lehrer. Er  holte zwei Schalen mit unterschiedlichem Schnee hervor und erklärte die  einzelnen Schneearten und deren besondere Eigenschaften.

„Dieser  Schnee ist sehr locker, der sogenannte Pulverschnee. Da er sehr fluffig  und leicht aufeinanderliegt, klebt er nicht gut zusammen.“ Zum Beweis  hob er eine Pranke davon in die Höhe und der Wind nahm den Schnee mit  sich. Eisi schaute ihm hinterher, doch Herr Schorle fuhr bereits mit  seiner Erklärung fort. „Er eignet sich ausgezeichnet zum Auspolstern der  Höhle.“

Eisi  zeigte wenig Interesse und so redete Herr Schorle weiter: „Dieser  Schnee hier ist schon etwas älter und gefroren, nachdem er gefallen ist.  Er ist sehr fest und feucht und eignet sich hervorragend zum Bauen von  Schneebären und zum Formen von Schneebällen.“ Er formte einen Schneeball  und warf ihn seinem gelangweilten Schüler an den Kopf. Dieser zuckte  erschrocken zusammen.

„He, das tat weh!“ Mürrisch rieb Eisi sich den Kopf.

„Natürlich,  dieser Schnee ist schließlich sehr hart.“ Schulterzuckend beäugte er  seinen Schüler, der sich vom Schnee befreite, und wechselte anschließend  das Thema.

„Das kannst du mit deiner Mama durchgehen und lernen. Ich würde dich jetzt gerne zu den Eisarten abfragen.“

„Mama wird sich freuen“, entgegnete Eisi ironisch.

„Sag  mir doch bitte, wie das Fachwort dafür heißt, wenn ein neuer kleiner  Eisberg entsteht.“ Dramatisch zog er seine rechte Augenbraue hoch und  wartete gespannt auf eine Antwort.

„Das  ist leicht. Man nennt es kalben. Der Eisberg kalbt, wenn ein Stück von  ihm abbricht. Nur sollte man nicht gerade auf dem kalbenden Berg stehen,  sonst fällt man selbst ins Wasser.“

„Sehr gut, Eisi. Und wie dick ist das Meereseis?“

„Oh,  das weiß ich nicht genau. Immer diese vielen Zahlen.“ Angestrengt  dachte er nach, dann fiel es ihm wieder ein. „An dünnen Stellen kann es  nur einen halben Meter dick sein, an dicken Stellen sogar bis zu acht  Meter.“

„Super. Eisi, ich bin begeistert. Du hast gelernt.“

„Danke.“ Eisi klang fast etwas stolz.

„Ich  weiß, dass diese ganzen Zahlen nicht einfach zu merken sind. Aber dafür  sind sie umso wichtiger, vor allem beim Jagen oder auch schon beim  Stehen auf dem Eis. Du willst schließlich nicht einbrechen.“ Er hielt  kurz inne. „Erkläre mir doch bitte noch den Unterschied zwischen Packeis  und Schelfeis.“

„Schelfeis  entsteht, wenn vom Festlandeis einzelne Stücke abbrechen und eine neue  kleine Eisplatte entsteht. Diese frieren ein bisschen zusammen und sind  dadurch miteinander verbunden, doch nicht mehr ganz so stabil.“

„Da gibt es nichts hinzuzufügen. Gut erklärt“, lobte Schorle. „Jetzt bitte noch das Packeis.“

„Packeis  sind ineinandergeschobene Eisschollen, die sich miteinander verkeilen.  Sie treiben auf dem Meer herum, da sie leichter als das flüssige Wasser  sind.“ Mit seinen Pranken ahmte er die Bewegungen des treibenden Eises  nach.

„Das stimmt auch. Sehr gut, Eisi. Für heute hast du genug gelernt. Du darfst nach Hause.“


Schulschluss

Wenige Minuten später kam auch schon das Wal-Taxi herbeigeschwommen und Eisi und stieg auf dessen breiten Rücken.

„Bis  morgen, Eisi. Lerne schön weiter. Morgen bringe ich dir verschiedene  Jagdtechniken im und hauptsächlich unter Wasser bei. Tschüss.“ Der  Lehrer richtete sich auf und winkte. Das Aufrechtstehen auf Eisschollen  war deutlich schwerer als auf dem Festland und erforderte ein gutes  Gleichgewicht.

„Tschüss,  Herr Schorle“, verabschiedete sich Eisi. Schon schwamm der Wal davon.  Nach kurzer Zeit stand Eisi wieder zu Hause und winkte seinem Taxi zum  Abschied. „Bis morgen.“

„Bis  morgen, Eisi.“ Das gewaltige Säugetier ließ seinen tiefen Gesang  erklingen und verschwand in den Wellen des Salzwassers. Eisi sah ihm  noch kurz hinterher, dann lief er zurück zur Höhle, wo seine Mutter Emma  bereits auf ihn wartete. Ein kleiner Haufen Fische lag vor ihr.  Gemeinsam aßen sie zu Mittag. Eisi erzählte, was er alles in der Schule  erlebt hatte, und Emma hörte aufmerksam zu. Sein Vater, Edward, war  momentan bei einer Besprechung mit den Robben, darum konnte er nicht bei  ihnen sein.

„Dann kannst du bald mit mir jagen und ich muss dich nicht immer bedienen. Dann kannst du auch das Mittagessen besorgen.“

Lachend musste Eisi zugeben, dass er sich lieber verwöhnen ließ, und Emma knuddelte ihn liebevoll.

„Mein  kleines, faules Bärchen.“ Sie seufzte und musste ebenfalls lachen. „Dir  kann ich einfach nicht böse sein, Eisi. Du bist viel zu süß dafür.“

Schlagartig  richtete sich Eisi auf. „Ich – bin – nicht – süß!“, betonte er jedes  Wort einzeln. „Warum sagen das bloß alle? Ich bin weder klein noch süß!“

Weil  es die Wahrheit ist, dachte Emma. Vor allem, wenn er wütend ist. Sie  verkniff es sich allerdings, dies laut zu sagen. Ihr war klar, dass Eisi  bloß wütend würde, was sie nicht wollte. Doch selbst dann wäre er so  süß, dass sie ihn einfach nur knuddeln wollte. „Sagt das Herr Schorle  auch?“

Eisi nickte, das Gesicht zu einer wütenden Grimasse verzogen.

Der Ruf der Grizzlybären
02: Neue Freunde

Prolog

„Was hat dieser kleine Eisbär gesagt? Schule?“, fragte Shira. Nachdenklich schaute sie Toby an.

„Ich  weiß es nicht genau, aber ich habe Edward danach gefragt. Er meinte, es  gäbe überall Schulen. Ich kann gucken, ob wir für Rico auch so eine  Schule finden“, entgegnete er.

„Das  wäre vielleicht gar nicht so schlecht. So lernt unser Kleiner auch  etwas über das Leben und all die anderen wichtigen Dinge. Allerdings  frage ich mich, ob er das überhaupt will“, grübelte Shira, die nicht  sicher war, ob es das Richtige für ihren Sohn war.

Toby  war da anderer Meinung. „Sieh es positiv. Wir haben endlich unsere  Ruhe, können uns komplett auf Thekla konzentrieren und sie richtig  erziehen. Vielleicht klappt es besser, wenn man sich Tag und Nacht mit  ihr beschäftigt. Weil bei Rico …“

„Was  willst du damit sagen?“, fuhr Shira ihn an. „Ich finde, Rico ist sehr  wohlerzogen, und das meiste habe ich gemacht, vergiss das nicht! Du hast  dich lieber um deine Dinge gekümmert und ihn immer mit mein Kleiner  geärgert.“

„Trotzdem.  Ich finde eine Schule nicht schlecht. Er kann es einfach probieren.  Immerhin muss er nicht sein ganzes Leben dortbleiben. Wenn es ihm nicht  gefällt, kann er – wenn es unbedingt sein muss – zurückkommen“,  beschwichtigte Toby sie und verdrehte bei dem letzten Satz die Augen.

„Wenn  du meinst“, fand Shira. Sie hatte das Gefühl, dass Toby ihren Sohn  loswerden wollte. „Ich bin nicht davon überzeugt, dass es etwas bringen  wird. Unser Sohn hat seinen eigenen Kopf. Er schlägt in dieser Hinsicht  voll nach seinem Vater. Ich glaube nicht, dass er hier weggehen will.“

„So hat er immerhin etwas von mir“, rechtfertigte sich Toby.

Ich glaube auch nicht, dass er seine Hasenfreunde aufgeben will, dachte Shira, denn Toby durfte davon nichts erfahren.

„Ich kann schauen, ob sich da etwas machen lässt.“ Toby rieb sich listig seine Pranken.

Kapitel 01: Fremde Bären mit schlimmer Nachricht

Rico  streunte neugierig im Wald umher und genoss den Duft der Blumen. Ein  sanfter Wind wehte und durchfuhr sein Fell. Der kleine Grizzlybär hob  seinen Kopf und streckte ihn in den frischen Luftzug. Sein Bauch  grummelte und lenkte ihn vom Wind ab, der mit ihm zu spielen schien.  Rico rieb sich seinen Bauch, der immer stärker rumorte, fast schon  knurrte.
Hunger!, dachte er und wollte gerade in die Höhle zurückkehren, da es  bald etwas zu fressen gab, als er einen Ast zerbrechen hörte.  Erschrocken fuhr er herum und blickte sich um. Ein unbekannter Geruch  stieg ihm in die Nase, den er nicht richtig zuordnen konnte. Hatte er  diesen Geruch überhaupt schon einmal gerochen?
Was hatte das zu bedeuten? Er runzelte die Stirn. Das Knacken war zwar  nicht laut gewesen, aber er kannte diese Art von Geräusch: Wenn ein Bär  oder ein anderes großes Tier auf einen Ast trat, knackte es nur kurz und  kaum hörbar, da er schnell zerbrach und die Pranke ihn unter sich  begrub. Trat ein Hase auf einen Ast, brach dieser nicht komplett durch,  sondern nur bis etwa zur Hälfte; das war dann ein leises Knacken, dafür  länger hörbar.
Dieses Knacken stammte aber unverkennbar von einem Bären! Da war sich  Rico hundertprozentig sicher. Gründlich blickte er sich um.
„Papa, ich habe dich längst bemerkt. Du kannst herauskommen. Ich lasse  mich nicht erschrecken, das weißt du doch!“, rief Rico entschlossen,  aber es blieb still. Seine anfängliche Hoffnung erstarb.
Doch da … da blickten ihn zwei Augen an … nein, vier.
Vier? Das kann nicht sein … das ist nicht Papa!, wunderte er sich. Rico  war überfordert und von Panik erfüllt. Seine Knie wurden plötzlich  weich. Sein Herz raste. Er begann hektisch zu atmen, rannte in die Höhle  und versteckte sich hinter seinen Eltern.
Nein, Papa war es wirklich nicht. Er ist hier!, überlegte Rico im Stillen, immer noch mit rasendem Herzen.
„He, nicht so stürmisch“, meinte Toby lachend, „du bekommst auch etwas zu fressen. Hast du schon jemals nichts bekommen?“
„Nein … äh … doch … nein, ich meine … äh … da draußen sind zwei fremde Bären mit vier Augen“, hechelte er.
„Und?“ Shira war wenig beeindruckt. „Jeder Bär hat zwei und zusammen sind es eben vier!“
„Ja, aber …“ Kurz überlegte er. „Das stimmt!“, musste er seiner Mutter  recht geben. Rico beruhigte sich allmählich wieder. Er fraß etwas und  half seiner kleinen Schwester Thekla, die vor wenigen Wochen geboren  worden war, die Mahlzeit in ganz kleine Stücke zu zerreißen.
Thekla durfte neuerdings schon winzige Fleischstücke fressen. Sie  verschluckte sich an einem etwas zu groß geratenen Stück und musste  husten, was sich wie ein röchelndes Lachen anhörte. Shira schlug ihrer  Tochter sanft auf den Rücken und die kleine Bärin fasste sich wieder.  Das passierte ihr ziemlich häufig, denn Fleisch war neu und ungewohnt  für sie. Da konnte sie nicht so schlingen wie bei Milch oder Gras. Shira  bevorzugte ohnehin vegetarisches Essen, doch Toby wollte seiner Tochter  nichts verwehren.
Nach dem kleinen Schrecken erzählte der aufgebrachte Jungbär seinen  Eltern von der sonderbaren Begegnung: von den vier Augen, die zu zwei  fremden Bären gehörten; von dem befremdlichen Geruch und den Geräuschen.
„Vielleicht ist es meine Familie“, überlegte Toby.
„Nein, die hätte ich doch erkannt! Sie riechen anders!“, konterte Rico.
„Stimmt, das ist komisch. Ich schaue nach!“ Toby erhob sich und verließ die Höhle.

Einige Minuten später kam er mit zwei fremden Bären zur Höhle herein.  Rico musterte sie und vergrößerte deutlich den Abstand zu ihnen. Er war  misstrauisch, sehr sogar. Was wollten diese Bären hier?
„Hallo, ich bin Herr Ravus. Das bedeutet Grizzlybär und ist lateinisch“,  stellte sich der erste Bär vor. Sein massiger Körper verdunkelte den  Eingang, sodass er nur spärlich zu erkennen war. „Ich bin der Lehrer für  die lateinische Sprache.“ Seine Stimme ließ Ricos Körper beben. In der  Nähe des Lehrers fühlte er sich unwohl.
„Wie einfallsreich.“ Rico lachte auf und verdrehte die Augen. So ein  dämlicher Name für einen Grizzlybären! Ein Grizzlybär, der Grizzlybär  hieß – wenn auch in einer anderen Sprache. Was wollte dieser Lehrer bloß  von ihm?
„Mein Name ist Herr Lyrik. Ich bin der Deutschlehrer in der  Bärenschule“, stellte sich der andere Bär vor. Er wirkte um einiges  freundlicher. Schon allein die Haltung war entspannter. Nicht wie vor  dem Sprung auf die Beute, wie es bei Herrn Ravus der Fall war. Auf dem  Gesicht des Deutschlehrers lag ein warmes Lächeln.
„Du kommst in die Schule, Rico“, freute sich Herr Ravus. Er setzte ein  gezwungenes Lächeln auf. Freundlichkeit war wohl nicht seine Stärke, wie  Rico schnell erkannte.
„Schule?“ Rico stürzte fast das Gesicht ab. Seine Augen waren so weit  aufgerissen, dass sie herauszufallen drohten. Das Fell sträubte sich,  seine Glieder wurden schwer wie Stein. In dieser Stellung hätte er  mühelos einen Sturm überstanden, ohne sich den kleinsten Bärenschritt zu  bewegen. Schule, das hatte ihm der Eisbär Eisi in der Arktis erzählt,  war ein Ort, an den kleine Bären gingen, um fürs Leben zu lernen.
„Na, so schlimm wird es schon nicht werden. Vielleicht findest du neue  Freunde“, munterte Shira ihn zweifelnd auf. Sie war selbst erschrocken,  dass Toby sein Versprechen tatsächlich wahrgemacht hatte. Insgeheim  hatte sie gehofft, dass es nur ein schlechter Scherz gewesen war.
„Sind dir meine alten Freunde etwa nicht recht?“, fragte Rico wütend,  fast schreiend. Auf seine Hasenfreunde ließ er nichts kommen. Sie waren  für ihn so wichtig wie eine Familie. Nein, sie waren seine Familie!
„Was hat er nur?“, wollte Herr Ravus wissen. „Schule ist doch toll!“
„Dann geh du doch dahin!“, schrie Rico aufgebracht und rannte aus der Höhle. Er wollte einfach nur weg.
„Ja, mein Kleiner, mit dir.“
Rico blieb entrüstet am Eingang der Höhle stehen. Jetzt nannte ihn  dieser fremde Bär auch noch mein Kleiner. Erstens gehörte er sich selbst  und zweitens war er nicht mehr klein! Das hatte er auch seinen Eltern  erklärt, die es fast verstanden hatten – zumindest Toby. Shira hatte es  schon vor langer Zeit beherzigt. Und jetzt tauchte dieser fremde Bär  einfach auf und nannte ihn mein Kleiner. Rico war fassungslos.
„Vergiss es!“, spuckte er dem Fremden jedes Wort mit solcher Abscheu entgegen, dass er kaum noch atmen konnte.

„Nur zur Probe! Aber ich sagte nur zur Probe!“, knurrte Rico  schließlich, der sich geschlagen gab. Die erwachsenen Bären hatten ihn  über zwei endlos lange Stunden bearbeitet. Gemeinsam hatten Toby und die  Lehrer auf ihn eingeredet, während sich Shira lieber um Thekla  gekümmert hatte. Sie wollte sich heraushalten.
„Ausgezeichnet“, strahlte Herr Lyrik.
„Nur eine Woche! Keine Sekunde mehr!“, zischte Rico. Ich werde vorher  jede Möglichkeit nutzen, um abzuhauen. Die sind doch nicht ganz normal …  Schule! Bei meiner Pranke, warum soll ich da hingehen?, jammerte er im  Stillen. Er schmiedete bereits einen Fluchtplan, während er noch in der  Höhle stand.
„Tschüss, Rico“, schluchzte Thekla und umarmte ihren großen Bruder. Sie  war froh, dass sie ihn hatte. Mittlerweile verstanden sich die beiden  Jungbären viel besser als am Anfang. Ihr rollten ein paar Tränen über  die Wangen und tropften auf den Boden. Auch Rico musste das Weinen  unterdrücken. Er wollte keine Schwäche zeigen. Nicht vor seinem Vater.  Diese Genugtuung gönnte er ihm nicht.
Thekla drückte ihren großen Bruder so fest sie nur konnte an sich. Sie  wollte ihn nicht loslassen, nicht hergeben; sie wollte ihn nicht  verlieren.
„Tschüss, Thekla. Ich werde dich auch vermissen. Aber in einer Woche bin  ich wieder zurück“, meinte Rico zuversichtlich. Er hatte es so laut  gesagt, dass die Erwachsenen ihn gut hören konnten. „Oder auch schon  früher“, fügte er leise hinzu, dass es keiner außer ihm selbst hörte.
„Komm“, forderte Herr Lyrik ihn sanft auf.
Rico funkelte seine Eltern wütend an und trottete hinter seinen beiden  zukünftigen Lehrern, Herr Lyrik und Herr Ravus, her. In Shiras Augen  konnte er ein Schuldgefühl und Trauer sehen, doch Toby blieb regungslos.  Er schien überglücklich.
Noch nicht einmal von den Hasen hatte er sich verabschieden können –  seinen Freunden, von denen nur seine Mutter wusste. Die Möglichkeit,  seine Schwester den Hasen vorzustellen, hatte sich noch nicht ergeben.  Sie war noch zu klein, um sich so weit von der Höhle zu entfernen. Auch  beobachteten Toby und Shira sie immer, sodass es fast unmöglich war,  unbemerkt zu den Hasen zu gelangen.

Kapitel 02: Kleiner Quälgeist

Nach kurzer Zeit blieb Rico stehen. „Mir ist der Weg viel zu weit!“, nörgelte er.
„Rico, wenn es sein muss, trage ich dich“, erbarmte sich Herr Ravus. Er  hatte Erfahrung mit kleinen, lauffaulen Bären. „Wir wollen nicht, dass  du zu wenig Schule hast und sie hasst!“ Er war beeindruckt von seinem  Wortspiel, doch nicht einmal sein Kollege Herr Lyrik, der gern reimte,  zeigte die kleinste Reaktion.
Du nicht, aber ich!, dachte Rico griesgrämig und stieg trotzdem auf den  Rücken seines zukünftigen Lehrers. Diese Chance konnte er sich nicht  entgehen lassen. Warum laufen?, dachte er und musste in sich  hineinlachen. Soll der mich doch tragen, wenn er unbedingt will, dass  ich in die Schule komme.
„Rico, kannst du bitte aufhören, mir andauernd deine Krallen in die  Seite zu drücken?“, sagte Herr Ravus freundlich. Rico bohrte allerdings  nach kurzer Zeit weiter.
„Kannst du aufhören, mir andauernd in den Rücken zu beißen?“, murrte Herr Ravus etwas genervt. Doch Rico hörte nicht auf.
„Hör endlich damit auf, mir ständig in die Seite zu treten!“, brummte  Herr Ravus schon deutlich lauter. Das störte Rico allerdings nicht.  Munter machte er weiter.
„Hör verdammt noch einmal damit auf, mir auf dem Rücken herumzuhüpfen!“,  knurrte Herr Ravus wütend. Er musste sich beherrschen, um nicht  komplett auszurasten. Rico jedoch blieb unbeirrt.
„Du hörst auf der Stelle auf, mir an den Ohren herumzuknabbern!“, schrie  Herr Ravus aggressiv. Rico ließ sich nicht aus der Ruhe bringen.
„Hör verflixt noch einmal auf, mir mit deiner Pranke auf dem Kopf  herumzuhämmern!“, brüllte Herr Ravus so aufgebracht, dass er fast zu  platzen schien.
„Rico! Obsecro ira! Nervus bundles!“ Ohne es zu bemerken, war er ins  Lateinische verfallen. Er hatte sich angewöhnt, auf Latein zu fluchen.  So klang es nicht so schlimm und außerdem verstanden es nicht viele.
Rico probierte alles Erdenkliche, um seinen zukünftigen Lehrer zu  verärgern. Er wollte es so weit treiben, dass dieser ihn vor Wut  zurückbrachte. Doch leider hatte er keinen Erfolg. Unermüdlich setzte  Herr Ravus seinen Weg fort. Er brachte ihn nicht zurück zu Thekla, Toby  und Shira … und seinen Freunden, den Hasen, denen er noch nicht einmal  Auf Wiedersehen hatte sagen können.
Vielleicht war es auch besser so. Bei einem langen Abschied hätte er nur  noch schwerer gehen können und vielleicht hätten Toby und die Lehrer  dann die Hasen entdeckt.
Als er nach einer halben Ewigkeit zu schwer wurde, erbarmte sich Herr  Lyrik und nahm den kleinen Quälgeist, zum Gefallen seines Kollegen, auf  den Rücken. Bei ihm blieb Rico jedoch still sitzen, da er ihn nett fand.
Herr Lyrik ist echt freundlich, aber der Ravus, dieser Fusselkopf, redet  nur so einen Quatsch. Von wegen: ‚Ich bin Herr Ravus und Ravus heißt  Grizzlybär‘. Da würde er Herr Grizzlybär heißen, spottete Rico stumm. Er  fand es ziemlich lächerlich. Von Anfang an hatte er diesen Ravus nicht  leiden können, doch Herr Lyrik schien um einiges erträglicher zu sein.
Bald darauf schlief er auf Herrn Lyriks Rücken ein. Dieser sang ihm  gerade ein Lied, das sehr beruhigend war. Ein singender Deutschlehrer  war auch nicht schlecht!


Wir gehen auf die lange Reise,
Manchmal laut und selten leise.
Alle Tiere lieben uns, alle aus dem Walde,
Und wenn ich ein schönes Echo sing‛,
Es laut zurückerhalle,
Es laut zurückerhalle!

Nun geht es auf die lange Reise,
Auf unsre eig‘ne Art und Weise.
Und schlafen wir auch einmal ein,
Träumen wir viel von daheim.
Aber von der Schule auch,
Aber von der Schule auch!

Ist der Unterricht zu schaffen,
Gibt es auch stets viel zu lachen.


Er  wurde immer leiser und summte schließlich nur noch die Melodie des  Liedes, das er selbst gedichtet hatte. Bald verstummte er komplett und  lauschte dem gleichmäßigen Atem von Rico. Er musste grinsen.
„Ravi, so schlimm ist der Kleine gar nicht“, fand er.
„Doch!“, wehrte dieser ab. „Du bist halt ein elender Schleimer. Du mit  deinem blöden Gesinge! Und nenne mich nicht Ravi! Ich heiße Herr Ravus,  das ist Lateinisch und bedeutet Grizzlybär.“ Er streckte seine Brust  stolz heraus.
„Übermut tut selten gut!“, belehrte Herr Lyrik. „Vielleicht mag dich darum niemand. Denk über meine Worte nach.“
„Lyri, ich bin nicht übermütig“, beschwerte sich Ravus. Ehe er  ausgesprochen hatte, knallte er gegen einen dicken Fichtenstamm, der ihm  unverschämterweise im Weg stand.
„Doch! Mich darfst du gern Lyri nennen, das stört mich nicht. Es gefällt  mir sogar. Lyrik ist auch lateinisch und bedeutet Gedicht.“ Er  schmunzelte und sah zu, wie sich Ravi aus dem Baum schälte. Ich habe  zwar keine Ahnung, ob das stimmt, aber seinen Zweck hat es erfüllt.
„Du eingebildeter … Dichter“, bekam Herr Ravus gerade noch so hervor.  Sein Kopf tat ihm weh, doch das wollte er seinem Kollegen nicht zeigen,  sonst hätte dieser ihn nur noch mehr ausgelacht. Er wollte seinen Stolz  um jeden Preis wahren.
Den Rest des Weges schwieg er. Er wolle Rico unter keinen Umständen  wecken, hatte er als Aussage hervorgebracht, auf die Herr Lyrik einen  weiteren Lachanfall bekam.
Wenn Rico schlief, schlief er wie ein Stein. Ihn konnte man nicht so  leicht wecken. Nur bis er schlief, konnte es sehr lange dauern.

Silberwolf in schwarzer Nacht

Finster lag die Nacht über den kahlen Bäumen, deren blattlose Äste wie knochige Finger in die schwarze Finsternis griffen. Zitternd kauerte ich unter dem größten Baum auf einer Lichtung. Der eisige Wind schob die Wolken beiseite, die den fahlen Mond freigaben. Seine blassen Strahlen schafften es kaum, den Boden zu erreichen. Zu dicht war die Finsternis, die mich umgab.

Da knackte es hinter mir und ich fuhr erschrocken herum. Erst vernahm ich ein Hecheln, das sich allmählich in ein bedrohliches, markerschütterndes Knurren verwandelte. Unaufhaltsam kam es näher – dann stand er vor mir: der einsame Silberwolf.

Bekannt aus alten Sagen, wusste ich, dass man dieser Kreatur nie zu nahe kommen durfte. Ich saß jedoch direkt vor ihr.

Der Wolf, der seinem Namen alle Ehre machte, hatte strahlend silbriges, im Mondlicht schimmerndes Fell. Durch seine roten Augen blickte er mich an, aus denen alle Qualen und Leid dieser Welt zu sprühen schienen.

„Komm mir nicht zu nahe“, wimmerte ich kläglich.

Der Wolf fletschte die Zähne.

„Bitte, ich … ich hab noch nie einem Tier etwas zuleide getan, bitte tu auch mir nichts.“

Wie ein grollendes Gewitter verließ ein weiteres Knurren seine Kehle, während er über mir thronte. Eingeschüchtert wich ich zurück. Immer weiter. Der Wolf kam näher. Noch einmal nach hinten gerutscht, spürte ich den Baumstamm im Rücken. Ich war gefangen und hatte keine Chance mehr zu entkommen.

Heiß spürte ich den Atem des aus den Sagen entsprungenen Raubtiers. Kalt überlief mich ein lähmendes Schaudern. Nicht mehr in der Lage, mich zu rühren, riss ich starr vor Angst die Augen auf. Die Panik übermannte mich und machte es mir unmöglich, mich nur den kleinsten Millimeter zu rühren.

Da beschnupperte mich das furchteinflößende Tier, ließ unerwartet von mir ab und verschwand so schnell es gekommen war.

„Nur, wer reinen Herzens ist, vermag es dem Silberwolf zu entkommen“, so lautete der letzte Satz der Legende, die mir Urgroßmutter einst erzählt hatte. Und sie hatte sich bewahrheitet.

FSJ-Blog 2022/23
Mein Freiwiliiges Soziales Jahr

Prolog: Das Abenteuer beginnt

Nach meinem Abitur hatte ich mir überlegt, etwas anderes zu machen als direkt weiter zu studieren. Da ich Grundschullehrer werden möchte, habe ich die Gelegenheit genutzt, um mich für ein FSJ (Freiwilliges Soziales Jahr) an meiner ehemaligen Grundschule, der Hans-Thoma-Schule in Malsch zu bewerben. Ich habe mich sehr darüber gefreut, als mir die Stelle zugesagt wurde.

In meinem FSJ fungierte ich gewissermaßen als Bindeglied zwischen der Hans-Thoma-Schule und dem Jugendhaus Villa Federbach. Die Trägerstelle war das Deutsche Rote Kreuz, von dem aus alle FSJler jeweils auf Seminare geschickt werden, wovon ich ebenfalls berichte.

Ich hatte mich dazu entschieden, im Bereich der Grundschule eingesetzt zu werden, und durfte die Kinder in ihrem Schulalltag begleiten und viele Bereiche kennenlernen. Zu meinen Aufgaben gehörte in der Schule die Betreuung im Mittagsband, Begleitung auf Ausflüge, Leseförderung für Kinder mit Lese-Rechtschreibschwäche (LRS), die Mitwirkung in Wahlbereichen, bei verschiedenen Projekten und bei den Streitschlichtern. Im Jugendhaus wirkte ich im Offenen Treff mit, half beim Theken-Verkauf, plante verschiedene Angebote mit, rief einen Schreibtreff ins Leben, schrieb diesen FSJ-Blog und noch vieles mehr. Wie es dazu kam, erzähle ich alles in diesem Buch. Viele der Aufgaben waren von Anfang an dabei, andere kamen mit der Zeit dazu oder änderten sich.

In meinem wöchentlichen FSJ-Blog berichtete ich darüber. Alle, die mit mir dieses wundervolle Abenteuer erleben wollen, sind herzlich dazu einladen, mit dabei zu sein.

Veröffentlicht wurde mein Blog im Malscher Anzeiger und auf Facebook unter Malsch erleben. Später auch auf dem Instagram-Account @fsj.hts.villa, den ich eröffnete. Meinen Blog mit Bildern findet ihr zudem auf meiner Website.

Sämtliche Links und weitere Texte, die ich schrieb, findet ihr auch in diesem Buch oder könnt sie ganz einfach per QR-Code aufrufen.

Und nun wünsche ich euch viel Spaß beim Lesen.


Ferienprogramm: Villa geht auf Reisen (01.08.2022 – 05.08.2022)

Eine Reise ins Weltall voller Abenteuer und neuen Entdeckungen: In der ersten Ferienwoche veranstalteten wir mit dem Jugendhaus Villa Federbach ein Ferienprogramm für Grundschüler. Eigentlich hätte auch mein Vorgänger Nils dabei sein sollen, der leider krankheitsbedingt ausfiel. Wir wünschen ihm alle eine gute Besserung. Darum übernehme ich vertretungsweise diesen Blog. Ich bin Niklas, der zukünftige FSJler der Villa. Ihr werdet nächstes Schuljahr von mir hören.

Am Montag starteten wir die Reise mit unserer Rakete und bereisten die Woche über die unterschiedlichen Planeten unseres Sonnensystems. Am wichtigsten ist natürlich eine Ausrüstung: selbst gedruckte T-Shirts mit dem neuen Villa-Logo. Auch eine eigene gestaltete Fahne ist unverzichtbar, die wir als tägliches Ritual gemeinsam hissten.

Wir bemalten Mondsteine, Fliesen und Patches passend zum Thema „Weltraumreise“. Durch unser Action-Painting kommunizierten wir mit den Aliens, denn Kunst ist bekanntlich eine Sprache, die alle verstehen. Am Bach las ich den Kindern eine selbstgeschriebene Geschichte vor. Der Höhepunkt war die Günther-Klotz-Anlage auf dem Jupiter, die wir gemeinsam erkundeten. Bei der großen Wasserschlacht um Neptun kühlten wir uns endlich ab und suchten anschließend im Federbach nach außerirdischen Lebensformen. Ausklingen ließen wir die Woche mit einem leckeren Pfannkuchen-Büfett auf der Venus und der Heimreise zurück auf die Erde, wo schon die Eltern auf uns warteten.

Diese Woche ging unglaublich schnell vorbei und hat sowohl den kleinen Astronauten als auch uns Betreuern viel Spaß gemacht. Ich hoffe, euch hat dieser kleine Einblick ins Ferienprogramm gefallen und ich freue mich darauf, euch in Zukunft mehr zu erzählen.

Grüße von eurem zukünftigen FSJler Niklas


Übergabeblog: Der neue FSJler

Nun darf ich Nils‘ Blog weiterführen, worauf ich mich sehr freue, diese ehrenvolle Aufgabe zu übernehmen. Auch mir macht das Schreiben enorm viel Spaß und gehört zu meinem größten Hobby. Einen ersten kurzen Blog durfte ich bereits in Vertretung für Nils über die erste Woche des Ferienprogramms der Villa verfassen, bei der ich schon viele Eindrücke sammelte und das Villa-Team kennenlernte. Das Ferienprogramm hat mir nur bestätigt, die richtige Wahl getroffen zu haben, mein FSJ hier zu machen. Eigentlich hätte mich Nils in dieser Woche einführen sollen, doch ich wurde vom Team gut unterstützt. Kennenlernen durften Nils und ich uns schon weitaus früher, als ich einen Schnuppertag machte. Bereits da haben wir uns direkt gut verstanden. Nachdem Fall C überwunden war, konnten wir uns noch einmal in der Villa sehen. Dort entstand auch das Bild dieses Blogs. Jedes Mal ein passendes Bild zu finden, wird vermutlich meine größte Herausforderung sein.

Doch nun zu mir. Ich wohne in Malsch und war selbst Grundschüler auf der Hans-Thoma-Schule. Daher ist es für mich umso schöner, in die ehemalige Schule zurückzukehren. Nach der vierten Klasse ging ich auf die Wilhelm-Lorenz-Realschule, doch was ich später werden wollte, wusste ich noch nicht. Erst während meinem Abi auf einem technischen Gymnasium merkte ich, dass dies nicht mein Bereich ist und ich lieber mit Kindern als mit Maschinen arbeite, was die Erfahrung aus einem früheren Praktikum zeigte. Doch nun, mit dem Ziel vor Augen, Grundschullehrer zu werden, ist das FSJ der optimale Weg für mich, worauf ich mich sehr freue. Ich kann mich daran erinnern, dass ich mal Schauspieler werden wollte, doch irgendwie verlor sich dieser Kindheitstraum. Selbstständiger Autor gestaltet sich auch schwierig. Ich schreibe nämlich in meiner Freizeit unglaublich gern Geschichten und Bücher, weswegen ich mich auf das Schreiben dieses Blogs sehr freue. Mein erstes Buch „Der Ruf der Grizzlybären 01: Das große Abenteuer“ veröffentlichte ich Anfang dieses Jahres. Genauer darauf und meine anderen Hobbys werde ich in einem zukünftigen Blog eingehen, da es sonst hier zu lange wird.

Nils‘ Blogs habe ich gern gelesen. Sie gaben mir einen tollen Einblick in mein bevorstehendes FSJ. So weiß ich ein bisschen mehr, was alles auf mich zukommen könnte. Ich hoffe, dass ihr auch in Zukunft am Lesen meines FSJ-Blogs Spaß haben werdet. Ich freue mich darauf. Und nun zum ersten Mal

Grüße von eurem neuen FSJler Niklas


FSJ-Blog 01: Einschulung (12.09.2022 – 16.09.2022)

Die erste Woche meines FSJs ging unglaublich schnell vorbei. Fast so, als wäre es nur ein einziger Tag gewesen. In dieser Zeit habe ich bereits viel erlebt und mich etwas an den neuen Alltag gewöhnt. Als schönen Start in mein Freies Soziales Jahr (FSJ) begleitete ich die Zweitklässler, die eine schöne Aufführung für die neuen Erstklässler einstudiert hatten. Als Zuschauer der Generalprobe konnte ich noch ein, zwei Tipps geben, die sie gut umsetzten. Die Aufregung war natürlich groß. Sogar ich hatte etwas weiche Knie, als ich die Vorführung verfolgte. Doch die Zweitklässler schienen während ihrem Auftritt völlig entspannt zu sein. „Die Geschichte vom Löwen, der nicht schreiben konnte“ zeigte den neuen Erstklässlern auf humorvolle Weise, wie wichtig es ist, schreiben und lesen zu können.

Mein normaler Tag beginnt glücklicherweise erst um zehn Uhr, was für mich als Langschläfer die optimale Zeit ist. Das klingt jetzt erst einmal entspannt, doch es gibt immer genug zu tun. Während ich vormittags in der Schule tätig bin, trifft man mich am Nachmittag im Jugendhaus Villa Federbach an. Dort kenne ich mich bereits durch das Ferienprogramm relativ gut aus. Von Montag bis Donnerstag bin

ich morgens in der Schule und erledige die unterschiedlichsten Aufgaben. Aktuell stehen noch einige organisatorische Dinge auf dem Plan, da die Schule frisch begonnen hat. Mein Kalender füllte sich so schnell, dass ich kaum hinterherkam. Ohne ein System hätte ich es wohl nicht geschafft, alle Termine festzuhalten. Gibt es gerade nichts zu tun, helfe ich, wo ich gerade gebraucht werde.

Ich bin dieses Jahr bei den Grundschülern eingeteilt und unterstütze die Lehrer und Betreuer bei ihren Aufgaben. Ab zwölf Uhr wird es etwas hektischer, denn um diese Zeit beginnt die Mittagsbetreuung der Grundschüler. Wir Betreuer begleiten die ersten bis vierten Klassen zum Essen in die Mensa und machen uns anschließend auf den Weg zum Bühnspielplatz, wo sich die Kinder richtig austoben können. Nach dem langen Sitzen in der Schule müssen sie erst einmal ihre Energie wieder loswerden. Zweimal die Woche geht es auf den Spielplatz (bei schlechtem Wetter in die Sporthalle) und zweimal sind wir im Bürgerhaus. Dort stehen den Kindern drei Räume zur Verfügung, in denen es Spiel- und Malsachen gibt. In einem der Räume ist Ruhe angesagt. Hier wird gelesen, einem Hörspiel gelauscht oder einfach nur entspannt. Gegen 14:00 Uhr machen wir uns wieder auf den Weg und bringen die Kinder zurück in die Klassenzimmer, denn der Unterricht geht weiter. Montags ist für mich der Tag an dieser Stelle zu Ende. An den anderen Tagen geht es für mich weiter in die Villa.

Dienstags steht dort abends Volleyball auf dem Programm, worüber ich sehr froh bin. Denn diese Sportart gehört zu meinem Favoriten unter den Ballsportarten. Auch von Badminton bin ich ein großer Fan. Hingegen beim Fußball kenne ich nicht einmal alle Regeln, vom Spielen spreche ich lieber gar nicht.

Am Mittwoch war Backen angesagt. Zusammen mit je zwei Kindern buk ich in der Küche Waffeln aus. Dick bestrichen mit Schokoladenaufstrich oder mit Puderzucker bestreut, ließen wir es uns am Ende gemeinsam schmecken. Währenddessen unterhielten wir uns über die Sommerferien, in denen fast alle im Urlaub waren.

Dass es jeden Tag etwas anderes zu tun gibt, finde ich sehr schön. So habe ich einen optimalen Einblick in alle Bereiche mit einem abwechslungsreichen Tagesablauf, der nie langweilig wird. Eine Erkenntnis habe ich allerdings jetzt schon: Die Wahl, mein FSJ an der Hans-Thoma-Schule und dem Jugendhaus Villa Federbach zu machen, war genau richtig. Denn sowohl die Betreuer als auch die Lehrer nahmen mich freundlich in ihr Team auf und führten mich in meine Aufgaben ein.

Bereits nächste Woche erlebe ich schon wieder etwas ganz anderes, denn ich habe mein Einführungsseminar, von dem ich euch natürlich berichten werde. Ich freue mich sehr darauf und bin gespannt, was ich alles erleben werde.

Grüße von eurem FSJler Niklas

Der Ruf der Grizzlybären
03: Der Fremde Wald

Prolog

Es war warm. Fast schon zu warm. Die Sonne erhellte den Wald und ließ den Staub in der Luft leuchten.

Babbelhop hatte es fast geschafft, seine Rede-Anfälle zu kontrollieren. So war er viel beliebter geworden. Die Nachwuchs-Bande, wie Hopelina ihre jüngeren Geschwister liebevoll nannte, tollte umher und raufte miteinander. Doch als es Babbelhop zu wild wurde, verfiel er in alte Gewohnheiten, setzte sich hin und begann pausenlos zu reden. Schon bildetesich um ihn ein Kreis, ein Schutzwall aus Wörtern, aus seiner Stimme.

Hopedix hielt sich einige Meter entfernt auf. Er saß im Schatten eines großen Baumes und beobachtete seine jüngeren Geschwister. Nach einiger Zeit gesellte sich Hopelina zu ihm. Auch Graupfötchen ließ nicht lange auf sich warten.

„Sind sie nicht süß?“, fragte Hopelina entzückt.

Graupfötchen schien ihre Ansicht nicht zu teilen. Er rümpftesein Näschen und legte nachdenklich den Kopf schief. „Sie sind ziemlich aufgekratzt. Das ist mir zu wild.“

„Verständlich, ich bin ganz deiner Meinung!“ Hopedix nickte Graupfötchen zu, dann schwiegen sie gemeinsam.

Nach einigen Minuten sprang Hopelina plötzlich auf. Ihre Ohren zuckten vor Aufregung. „Wenn Mama zurückkommt, gibt es eine Überraschung. Das hat sie jedenfalls gesagt.“

„Und das fällt dir erst jetzt ein?“

„Da kann ich doch nichts dafür!“ Hopelina blickte ausweichend zu Boden.

„Schnell, wir müssen als Erste bei ihr sein. Und sag niemandem etwas davon, so haben wir mehr.“ Hopedix sprang los und Hopelina und Graupfötchen folgten ihm. Nach kurzem Überlegen fragte er schließlich: „Was für eine Überraschung?“

„Weiß ich doch nicht. Und wenn, wäre es keine Überraschung mehr.“

„Das ist wahr!“ Ungeduldig saß Hopedix neben seiner Schwester. Sie schauten in die Richtung, aus der die Mutter kommen sollte. Kurz darauf betrat Mutter Hase die Lichtung und Hopedix machte einen kleinen Luftsprung. „Sie ist da!“ Er flüsterte zwar, doch seine Vorfreude war kaum zu überhören.

„Ja, ich bin da! Warum bist du so aufgeregt?“, fragte die Häsin. „Hat dir Hopelina etwa von der Überraschung erzählt, die sie für sich behalten sollte?“

Geschockt betrachtete Hopelina ihre Mutter, doch diese begann zu lachen. Sie stellte sich auf einen niedrigen Baumstumpf und stieß einen lauten Pfiff aus, damit alle sie hören konnten. Sogleich waren auch schon die Großen um ihre Mutter versammelt, doch von den Kleinen fehlte jede Spur.

„Tja, die Nachwuchs-Bande … typisch!“ Hopelina zuckte mit den Schultern.

„Die Nachwuchs-Bande?“ Mutter Hase lachte spitz auf. „Eine tolle Idee. Und wie nennt ihr euch?“

„Wir sind Die Bande“, erklärte Hopelina stolz.

Irritiert sah sie ihre Tochter an. „Wirklich sehr … einfallsreich!“ Erneut richtete sie sich auf. „Jetzt reicht es aber! Hoper, Hopser, Hopie, Hop, Hoppel, Hibbelhop, Babbelhop und Hopedix! Kommt sofort hierher!“, rief sie.

„Hopello!“

„Was?“ Die Mutter wirkte verwundert.

„Hopello! Ihn hast du nicht gerufen. Und ich bin Hopedix.“

„Stimmt! Mit diesen vielen Namen kommt man noch ganz durcheinander.“ Sie lachte auf und kreischte: „Hopello!“

Keine Minute später stand die Nachwuchs-Bande erwartungsvoll neben der Bande.

„Was ist los? Es tut mir leid, dass wir dich erst beim zweiten Rufen gehört haben!“ Babbelhop schielte schuldbewusst zu Boden.

Hopelina musste grinsen. Babbelhop hatte sich wortwörtlich verbabbelt. Woher konnte er schließlich wissen, wenn sie es erst beim zweiten Rufen gehört hatten?

„Tut leid, tut leid uns tut!“, gab Hopie kleinlaut von sich. Sie verdrehte noch immer die Wörter, wenn sie aufgeregt war.

„Wenn ihr leise seid, kann ich erzählen, welche Überraschung ich habe.“ Augenblicklich verstummten alle. Selbst Babbelhop saß schweigend neben seinen Geschwistern.

„Wie ihr wisst oder auch nicht, habt ihr einen Vater oder nicht.“

Sichtlich irritiert blickten ihre Kinder sie an. „Hä, was?“

„Ups, das war wirklich ein dämliches Gebrabbel. Aber ich bin auch ein bisschen aufgeregt.“

„Sag doch einfach, was du uns mitteilen willst. Ich bin so neugierig. Ich will wissen, was du uns sagen willst.“ Babbelhop war wie so oft in einem Schwall von Wörtern gefangen, die seiner Mutter momentan fehlten.

„Also gut. Ihr seid jetzt alt genug. Wir wollen die Welt erkunden.“ Gekonnt legte sie eine Pause ein, um die Aufregung zu steigern.

„Aha, und warum hast du das nicht schon mit uns gemacht?“, wollte Jammerhop wissen.

„Weil ich auf eure jüngeren Geschwister gewartet habe. So müssen wir es nicht zweimal machen. Jetzt lohnt es sich. Ihr werdet euren Vater kennenlernen, auch wenn ich ihn noch immer nicht leiden kann. Dieser arrogante Hase! Hält sich wohl für einen König oder so, dabei bin ich … Ach, egal jetzt. Morgen brechen wir auf.“ Erneut hielt sie inne und wartete auf die Reaktion ihrer Kinder.

„Darf Rico mit seiner Familie mitkommen? So kann er uns vor Gefahren beschützen“, schlug Hopedix vor.

„Dieser Bär ist die Gefahr! Aber von mir aus, wenn es unbedingt sein muss, frag ihn halt!“ Sie nickte ihrem Sohn zu.

„Danke, Mama!“ Damit hätte er nicht gerechnet. Schon sprang er los, um seinen Freund zu informieren.

So kann er vielleicht sogar helfen, auf die Kleinen aufzupassen.Die Hasenmutter grinste ihrem Sohn hinterher, währender zwischen hohen Gräsern und herabgefallenen Blättern verschwand.Trotzdem vertraue ich ihm nicht.


Kapitel 01: Eine großartige Neuigkeit

Thekla tobte ausgelassen mit Rico. Die Jungbärin und ihr älterer Bruder spielten Fangen. Zuvor hatten sie Verstecken gespielt.
Shira saß mit Toby vor der Höhle. Sie sprachen über Shanty und ihre Jagd mit Thekla im Moos-Moor.
„Ich kann es noch immer nicht gutheißen, was meine Mutter dort geleistet hat.“
„Shira, finde dich damit ab. Ändern kannst du es ohnehin nicht mehr!“ Beschwichtigend strich Toby ihr über die Schulter.
Mürrisch zerbrach Shira einen Stock und warf beide Stücke in das Gras, das raschelnd nachgab. Die Sonne hatte es bereits stellenweise braun werden lassen. Shira beobachtete ihre beiden Kinder und ihre Laune hellte sich ein bisschen auf. Sie dachte an ihre eigene Kindheit zurück. Daran, wie sie mit ihrem kleinen Bruder Toby gespielt hatte.
In der Ferne erblickte Rico einen Hasen, der eilig auf ihn und Thekla zukam. Das Gras verdeckte ihn fast komplett. Zwischen jedem Sprung verschwand er bis zu seinen Ohren.
„Hopedix“, rief Rico freudig, als er seinen Freund erkannte.
„Rico, Thekla, es gibt eine großartige Neuigkeit. Kommt, Mama erzählt es euch.“ Er hoppelte voraus und die jungen Bären folgten ihm gespannt. Unbemerkt von Shira und Toby kamen sie zum Hasenbau, an dem die anderen Hasenkinder miteinander spielten.
„Da seid ihr ja“, begrüßte die Hasenmutter die Bären.
Erwartungsvoll sahen Rico und Thekla die Häsin an. Dass sie nicht direkt lossprach, machte Thekla noch nervöser. Genau das hatte die Häsin erzielen wollen. Rico dagegen hatte seine brennende Neugier gut unter Kontrolle, sodass sie es nicht bemerkte.
„Nun sag es doch endlich!“, bettelte Thekla. Ungeduldig klopfte sie mit ihrer Pranke neben dem Hasen auf den Boden.
„Ich möchte mit meinen Kindern ihren Vater besuchen. Sie wollen euch als Begleitung. Zum Schutz, gewissermaßen.“
„Sehr gerne. Das ist eine tolle Idee!“ Thekla war sofort Feuer und Flamme, doch Rico schien skeptisch.
„Das ist wirklich toll, aber wir müssen erst Mama und Papa fragen, ob wir mitgehen dürfen.“
„Sicher.“ So langsam war sie auch davon überzeugt, dass es besser wäre, die Grizzlybären mitzunehmen. Schließlich waren sie groß – größer als die Hasen – und stärker.
„Thekla, spiel mit uns.“ Hopie begrüßte die Bärin stürmisch und zog sie mit sich. Sie fand es toll, dass sie mitkommen würden. Thekla war ihre einzige Freundin. Natürlich mit der Ausnahme von Hopelina, ihrer großen Schwester. Auch ihre Geschwister begrüßten die Bärin freudig. Sie wussten bereits, dass die Grizzlys sie begleiten sollten.
Graupfötchen lief zu Rico, dem er noch immer sehr dankbar war. Schließlich hatte ihm dieser Grizzlybär den nötigen Mut gegeben, mit ihm und Tivitop aus der Schule zu fliehen. „Ich finde es echt super, dass ihr mitkommt.“
„Aktuell kann ich noch nichts versprechen, ich muss erst meine Eltern fragen.“ Rico zuckte mit seinen Schultern.
„Falls nicht, beschütze ich euch!“, meinte Hops und streckte mutig seine Brust heraus. „Ich habe keine Angst. Vor nichts und niemandem. Grrr!“ Demonstrierend fletschte er seine Zähne und knurrte, was allerdings mehr einem kläglichen Fiepen ähnelte.
„Was machen wir, wenn du und Thekla nicht mitkommen dürft?“, klagte Jammerhop, wie es seine gewohnte Art war.
„Ich habe gesagt, ich beschütze euch“, wiederholte Hops.
Hopedix zuckte mit seinem Näschen. Er hoffte, dass die Grizzlybären die Erlaubnis ihrer Eltern bekamen.
Rico lief zu seiner Schwester, die noch immer neben Hopie stand. Gemeinsam kehrten sie zur elterlichen Höhle zurück.

„Mama, Papa, dürfen wir mit den Hasen ihren Vater besuchen?“ Thekla sah abwechselnd ihre Eltern an.
„Was?“, fragte Toby irritiert. „Rico, erzähle am besten du in aller Ruhe, was Thekla will.“
„Bist du fies!“, meinte Shira lachend.
„Ist doch wahr. So hektisch, wie die redet, versteht keiner etwas.“ Gleichgültig blickte er seine Tochter an.
„Thekla und ich wollen fragen, ob wir die Hasen zu ihrem Vater begleiten dürfen.“
„Von mir aus gerne, wenn ihr auf euch aufpasst. Schließlich seid ihr schon groß!“
„Nein!“ Toby war eindeutig dagegen. „Allein, weit weg … und auch noch mit den Hasen? Nein!“
„Aber, Papa, …“, setzte Rico an.
„Nichts aber! Ich bleibe dabei.“
„Toby, du könntest wirklich ein bisschen nachsichtiger mit ihnen sein. Sie sind keine Babys mehr.“
„Nein! Nein heißt nein. N wie der erste Buchstabe von Nein, e wie der zweite Buchstabe von Nein, i wie …“
„Wir haben es verstanden“, motzte Rico, der die Entscheidung seines Vaters nicht nachvollziehen konnte. Es war einfach nur unfair!
„Och bitte!“, bettelte Thekla und sah ihren Vater mit großen Augen an. Ihrem Bettel-Blick konnte Toby nur selten widerstehen.
„Na gut“, lenkte er mürrisch ein, „aber nur unter einer Bedingung!“
„Und die wäre …?“ Rico begann zu zweifeln. Was konnte sein Vater verlangen? Bestimmt etwas, das sie davon abbringen sollte, die Reise anzutreten.
„Ich will, dass wir vorher meine Familie besuchen. Rico kann mit den Hasen gehen, Thekla, Shira und ich kommen nach.“
„Das ist doof! Ich will auch mit zu deiner Familie!“, jammerte Rico.
Toby lachte hämisch. Er hatte seinem Sohn die Wahl gelassen. „Dir kann man es auch nicht recht machen!“
„Nein, schließlich will ich William und Waldi wiedersehen.“
„Und ich will die Hasen nicht allein gehen lassen.“ Thekla war hin- und hergerissen. „Aber ich will auch zu Waldi und William.“
„Das ist doch keine schwere Entscheidung!“, fand Toby. „Entweder ihr geht mit zu meiner Familie und trefft danach die Hasen oder ihr bleibt hier! So einfach ist das!“
„Na gut“, gab Rico nach, „lieber so als überhaupt nicht! Ich sage den Hasen Bescheid.“
Thekla blieb bei Shira. Sie war beleidigt.
„Jetzt schmolle nicht! Ich hätte es auch ganz verbieten können!“, drohte Toby mit einem strengen Unterton in der Stimme.
Wütend funkelte sie ihren Vater an. „Das ist Erpressung!“ Mit diesen Worten verschwand sie in der Höhle und drückte ihren Kopf gegen die massive Felswand.

„Wo ist Thekla?“, wollte Hopelina wissen. Suchend schaute sie sich um, doch sie konnte die junge Grizzlybärin nirgends entdecken. Um sie drängten sich neugierig ihre Geschwister.
„Sie ist zu Hause.“ Rico wirkte bedrückt.
„Dürft ihr nicht mit? Oh, ich habe es gewusst, das ist aber traurig. Schade! Was sollen wir bloß tun? Jetzt muss Hops doch auf uns aufpassen. Ob das gutgehen wird? Ich …“
„Babbelhop!“, unterbrach Hophoch seinen Bruder. „Lass Rico ausreden, dann erfährst du auch, worum es geht.“
„Mama war gleich einverstanden, Papa allerdings …“ Rico überlegte, wie er es am besten erklären sollte.
„Oh nein!“, heulte Jammerhop.
„Du bist jetzt auch still!“, zischte Hopelina.
„Zuerst war er dagegen, aber dann hat er eine Bedingung gestellt.“ Als Rico zum Luftholen eine Pause machte, waren tatsächlich alle still und lauschten gespannt, wie es weiterging. „Er will, dass Thekla seine Familie kennenlernt. Daher erlaubt er es nur, wenn wir vorher seine Familie besuchen. Wir werden uns später auf dem Weg treffen.“
„Besser als gar nicht!“, fand die Hasenmutter. „Sag deinem Vater, dass wir morgen früh aufbrechen werden.“
„Das mache ich. Bis … irgendwann.“ Rico verabschiedete sich und kehrte nach Hause zurück.
„Ihr habt es gehört. Sammelt einen kleinen Proviant, morgen früh werden wir aufbrechen“, beschloss die Hasenmutter.
Schon stoben die Kinder auseinander und legten sich einen beachtlichen Reiseproviant an. Sie sammelten Eicheln und Samen, rissen Gräser heraus und schleppten Kräuter herbei. Der Mutter fielen fast die Augen aus dem Kopf.
„Einen kleinen Proviant, hatte ich gesagt. Nicht den ganzen Wald!“ Sie begutachtete die Vorräte kritisch. „Wie wollt ihr das alles tragen?“
„Wir dachten da an dich“, informierte Hops sie beschämt grinsend.
„An mich?!“ Empört stöhnte sie auf. „Das denkt ihr wohl! Jeder trägt seinen Kram schön selbst! Ich bin doch nicht euer Lasttier! Und außerdem … Gras! Das gibt es wirklich genug. Das findet man überall. Gras!“ Sie lachte kurz auf. „Wer nimmt schon Gras mit?“

FrieDaVilla

Die Geburt des Hausgeistes

Es war Nacht im Jahre 1985. Schwach schimmerte das Licht des neuen Jugendhauses in die Nacht. In jener Nacht schienen die Sterne viel heller auf die Villa. Sie tauchten das Haus in einen magischen Lichtkegel, der die Dunkelheit fernhielt. Da fiel einer der Sterne vom Himmel hinab – direkt auf das Jugendhaus Villa zu und verwandelte sich. Aus dem hellleuchtenden Stern wurde ein von oben bis unten in Rot gekleideter Geist. In dieser geheimnisvollen Nacht wurde aus diesem Stern Frieda geboren: ein Hausgeist, der das Licht der Sterne in die Gesichter und Herzen der Kinder bringen sollte und die Vielfalt und Kreativität in bunten Farben in das Jugendhaus selbst. Die Weiten des Universums und die Magie der Welt schlummerten in Frieda und waren ein Teil von ihr, der nur darauf wartete, geteilt zu werden. Sie verteilte ihn herzlich gerne an alle Besucher des Jugendhauses.


Kapitel 03: Der Neue

Das Jugendhaus Villa Federbach: der Treffpunkt vieler Kinder und Jugendlichen, die sich dort zum Spielen, Spaßhaben oder einfach nur zum Entspannen treffen. Wie immer war es gut besucht. Neben Billard und Tischkicker wurden viele Kartenspiele gespielt.

So auch an diesem Morgen, als die drei Freundinnen Lilly, Marlene und Petra die Villa betraten.

Petra war die kleinste von ihnen, doch dank ihrer Intelligenz konnte sie es mit jedem ausnehmen. Meistens trug sie eine blaue Latzhose, darunter einen Pullunder mit einer langen Bluse und weißem Kragen. Auf ihrer Nase saß eine Brille, die ebenso braun war wie ihre Haare, die sie an diesem Tag als Zopf trug.

Ihre Freundin Marlene trug ebenfalls eine Brille. Unter einem Strohhut guckten ihre blonden Haare heraus, die bis zur Schulter reichten. Zu ihrer weißen Jeansjacke trug sie eine blaue Jeanshose.

Das komplette Gegenteil zu den beiden Mädchen war Lilly, die viel Wert auf ihr Äußeres legte. Stets in Markenklamotten und mit schicken langen Haaren war sie immer bereit, ihr Handy für ein Selfie zu zücken.

Voller Freude marschierten sie ins Jugendhaus hinein, doch was sie sahen, verblüffte sie. Alle spielten miteinander, aber … rückwärts. Der Ball des Tischkickers schoss aus dem Tor; der Queue stieß die Kugel nicht fort, er zog sie wie mit einer unsichtbaren Kraft aus dem Loch heraus; die Karten flogen wie automatisch zurück auf die Hand.

Irritiert blieben sie stehen und guckten dem verrückten Schauspiel einen Moment lang zu. Gerade lief Lena an ihnen vorbei zurück zum UNO-Tisch. Rückwärts! Sie setze sich und die Karten flogen wie aus Geisterhand zurück in ihre Hand – abwechselnd eine von ihrem Stapel, dann eine Karte ihres Mitspielers.

„Hä, was ist denn hier passiert?“ Ratlos blickten sie sich an. So kannten sie die Besucher der Villa gar nicht.

Schnell schoss der kleine Tischkicker-Ball aus dem Tor heraus und einer der Spieler griff danach. Wie ein dressierter Hund rollte er in seine Hand zurück.

„Diese Menschen hier voll komisch“, bemerkte Lilly.

„Lilly, grammatikalisch richtig heißt dein Satz: Diese Menschen sindhier voll komisch!“, verbesserte Petra sofort und rollte mit den Augen. Sie konnte es nicht leiden, wenn andere Leute die Sätze nur halb oder sogar falsch aussprachen. Das hatten sie doch nicht so in der Schule gelernt!

Am Billardtisch zog ein Mädchen eine Kugel hinter dem Queue her, berührte sie und stellte diesen einfach neben sich. Die Kugel selbst blieb einfach liegen.

„Seht mal, das kann ich doch nicht in meine Story posten“, klagte Lilly. Ihr Instagram-Account war ihr Ein und Alles. Täglich lud sie mehrere Dutzend Bilder hoch, um ihr Leben mit ihren Followern zu teilen. Doch so etwas konnte sie unmöglich posten. Das würde ihr ohnehin niemand glauben.

„Hört auf zu streiten!“, ging Marlene dazwischen. Fieberhaft suchte sie nach einer Lösung. „Vielleicht können wir Ricardo nach Hilfe fragen.“

Glücklicherweise stimmten ihre Freundinnen zu. „Okay.“

„Gute Idee“, meinte Lilly, als ob es ihre eigene gewesen wäre.

Gemeinsam liefen sie auf die Theke zu.

Ricardo, der dahinterstand, hatte ein leeres Glas an den Lippen angesetzt. Während seine Augen flackerten, füllte sich dieses allmählich, bis er es absetzte und zurück in die Flasche goss. Dabei hielt er jedoch die Flasche oberhalb des Glases, das den Inhalt einzusaugen schien. Das Glas war sauber, als ob er es nie benutzt hätte. Zum Schluss verschloss er mithilfe des Flaschenöffners die Öffnung mit dem Kronkorken.

„Ricardo, was ist denn hier los?“, wollte Petra von ihm wissen, als er die Flasche beiseitegestellt hatte.

„Genau, was ist denn los?“, hakte Lilly sofort ungeduldig nach.

Ricardo hob den Blick, grinste selig und antwortete: „Netla meib sella tsi se. Lamron sella chod tsi se.“ Abwechselnd blickte er die Freundinnen an. Er schien auf eine Antwort ihrerseits zu warten.

„Hä?“ Verwirrt blickten sie sich an. Was für ein Kauderwelsch gab Ricardo von sich? Sie hatten kein einziges Wort verstanden.

„Lass uns Jörg anrufen“, schlug Petra vor, da sie nicht weiterwusste.

„Ja, lasst ihn uns auf jeden Fall per Videoanruf anrufen“, wiederholte Lilly, „so kann er mein schönes Outfit sehen.“

„Och, Lilly!“, motzten Marlene und Petra synchron. Wie so oft ging es ihrer Freundin immer nur darum. Selbst in einer so ernsten Situation schien ihr das eigene Aussehen noch immer wichtiger zu sein.

Gemeinsam suchten sie sich ein ruhiges Plätzchen. Auf der Treppe am Eingang hatten sie es sich gemütlich gemacht. Mit dem Laptop wollten sie ihn anrufen. Jörg, der Leiter des Jugendhauses, war nämlich außer Haus und so war es die einzige Möglichkeit, ihn zu erreichen. Vielleicht wusste er, was hier vor sich ging. Erwartungsvoll nahm Lilly den Laptop auf den Schoß und klappte ihn auf. Die Kamera richtete sie so aus, dass sie selbst mittig im Bild zu sehen war.

Es klingelte eine Weile, dann ging er endlich dran.

„Hallo, Jörg, weißt du, was in der Villa los ist?“, wollte Marlene von ihm wissen.

Sella tssap se, Neknadeg eneik cheu tcham“, sagte er und fuchtelte wild gestikulierend mit den Armen herum. Seine Brille hielt er dabei in der Hand. Leider war die Verbindung nicht ganz so gut und somit auch die Bildqualität nicht die beste. Mehrfach stockte das Bild. „Lamron sella chod tsi se. Neis sol llos saw, äh?“, fuhr er unbeirrt fort. Plötzlich trug er seine Brille wieder auf der Nase. Sie hatten gar nicht mitbekommen, wie er sie aufgesetzt hatte, doch das war im Moment völlig egal, sodass sie sich darüber keine Gedanken machten.

„Hä? Was sollen wir denn jetzt machen?“ Entmutigt ließ Lilly den Kopf hängen. Sie hatte sich aus dem Anruf mehr erhofft. Doch sie waren keinen Schritt weitergekommen. „Er ist auch so komisch“, teilte sie überflüssigerweise ihre Erkenntnis, Petra und Marlene hatten es schließlich auch gesehen. Am meisten enttäuscht war Lilly jedoch, dass er nichts zu ihrem schicken Outfit gesagt hatte.

„Vielleicht hat es etwas mit Drogen zu tun“, überlegte Marlene. Ihr kam das alles sehr verdächtig vor.

„Wie wäre es, wenn wir zur Drogenberatung gehen?“, schlug Petra sofort vor.

„Gute Idee“, fanden ihre Freundinnen. Lilly klappte den Laptop zu und sie standen auf.

„Wartet, wo wollt ihr hin?“, erklang da hektisch eine unbekannte Stimme. Irritiert wandten sie sich um. Mitten auf der Treppe war eine Truhe aufgetaucht. Es war Friedas Truhe, doch es war nicht ihr Hausgeist gewesen, der da zu ihnen sprach. Zwar ebenfalls in Rot gekleidet, aber mit kurzen Haaren und Bart, guckte sie ein neuer Geist an.

„Hä? Wer bist du denn?“, fragte Petra geschockt.

„Ich bin Fridolin, der neue Hausgeist.“ Sofort war er ruhiger und strahlte übers ganze Gesicht, als er sich vorstellte. Nacheinander blickte er die Mädchen an.

Mit den Unterarmen auf die Stufen gestützt, um ihn besser ansehen zu können, saßen sie auf der Treppe. Fridolin? Der neue Hausgeist? Hatten sie gerade richtig gehört?

„Wieso neu? Was ist denn mit Frieda?“, wunderte sich Marlene.

„Wisst ihr, Kinder …“ Ein selbstgefälliges Lächeln schlich sich auf das Gesicht des neuen Geistes. „Frieda war alt. Sie ist nun in Rente gegangen.“ Er schien sehr erfreut darüber zu sein.

„Und was ist hier passiert?“ Streng blickte Lilly ihn an.

„Was soll denn passiert sein? Es ist alles wie zuvor.“ Unschuldig zuckte Fridolin mit den Schultern. Lässig stützte er sich am Rand der Truhe ab.

„Nein, ist es nicht!“, riefen sie bestürzt aus.

„Doch“, beharrte er, „genau so habe ich es in Friedas Buch gelesen.“ Fridolin wusste nicht, was diese Mädchen für ein Problem hatten.

„Welches Buch?“, wollte Lilly wissen.

„Das Handbuch für Hausgeister.“ Seine Stimme klang vorwurfsvoll. Für ihn war es selbstverständlich, dieses Buch zu kennen.

„Welches Handbuch? Wo ist es?“, fragten die Mädchen weiter, da sie davon noch nie etwas gehört hatten.

„Keine Ahnung, ich habe es gelesen und dann draußen weggeworfen“, erzählte der Geist.

Das war ein starkes Stück! Dem Geist schien es völlig egal zu sein, doch die Freundinnen blickten sich geschockt an. Wie konnte er nur so dumm sein und das Buch einfach wegwerfen?

Sie beschlossen, danach zu suchen und eilten die Treppen hinunter.

Schwungvoll flog die Tür des Jugendhauses auf. Die drei Mädchen stürmten hinaus.

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