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Märchenhaft

Vera Sturm

Deine Lieblingsfigur wird in ein Märchen gezogen. Wer oder was begegnet ihr?

Friedlich schlummernd lag ich in meinem Bett, als plötzlich meine Mama ins Zimmer gerannt kam und die Rollläden schwungvoll aufzog.

„Aufwachen, Dornröschen, die hundert Jahre sind vorbei“, trällerte sie. (1) Das viel zu helle Sonnenlicht schien mich direkt an. „Heutzutage muss man sich den Prinzen selbst suchen. Einfach hinsitzen und abwarten funktioniert schon lange nicht mehr!“

Was? Wieso Prinz? In welchem Film war ich hier gelandet? Nein, in welchem Märchen? Wenn es einem Albtraum gab, gab es dann auch ein Albmärchen?

„Deine Oma ist krank, du sollst ihr frischen Kuchen und Medizin bringen“, erklärte sie mir. (2)

„Krank?“, besorgt guckte ich Mama an. „Was hat sie denn?“

„Nichts Schlimmes. Ihre üblichen Wehwehchen. Und langsam scheint ihre Demenz stärker zu werden“, teilte sie mir traurig mit.

Auf dem Küchentisch stand bereits eine Aldi-Tasche, in der sich der Kuchen einer Fertigbackmischung – natürlich! Mama war keine gute Bäckerin – und die Medizin befand. Ich schnappte sie mir und lief zu meiner Oma. Da es die schönere Strecke war, nahm ich den Weg durch den Park. Zwischen den vielen Bäumen verlief ich mich fast im kleinen Wald. (3) Sieben große Raben mit spitzen Schnäbeln saßen auf dem Weg und pickten nach Brotkrumen, die dort jemand für sie hingeworfen hatte. (4) Ungewollt scheuchte ich alle sieben auf einen Streich. (5) Laut krächzend flogen sie davon.

Gerade als ich um die Ecke bog und den Ausgang endlich fand, kam mir Dina mit ihrer Hündin Luna entgegen. Diese knurrte mich mit gefletschten Zähnen an.

„Luna“, rief ich geschockt aus, „du kennst mich doch. Wieso knurrst du?“

„Was hast du in deiner Tasche?“, wollte Dina wissen. „Vielleicht mag sie das nicht.“

„Kuchen und Medizin für meine Oma“, teilte ich ihr mit. Dass es eine Fertigbackmischung war, verschwieg ich.

„Kuchen? Ah, das muss es sein. Luna wird wütend, wenn sie Kuchen riecht, da sie nie etwas davon abbekommt.“

„Wie gemein“, fand ich.

„Ganz im Gegenteil. Kuchen ist ungesund für Hunde“, klärte mich Dina auf.

„Oh“, erschrak ich, „zum Glück bekommt sie nichts. Aber ich muss dann auch weiter.“

„Tschüss, gute Besserung für deine Oma“, rief mir Dina hinterher, ehe sie verschwand.

Als ich am Spielplatz vorbeikam, sah ich ein paar Kinder miteinander spielen. Vergnügt buddelten sie im Sand. Ich zählte sie unbewusst. Es waren sieben Jungs und ein Mädchen. (6) Dieses hielt einen Apfel in der Hand, an dem es sich in dem Moment verschluckte, als ich es anlächelte.

Panisch kam die Mutter angerannt und klopfte ihrer Tochter auf den Rücken. Die ohnehin schon fahle Haut des Mädchens hatte jegliche Farbe verloren. Nur ihre Lippen stachen rot hervor, ihre rabenschwarzen Haare trug sie in einem hässlichen Kurzhaarschnitt. Ihre Mutter hingegen hatte langes, blondes Haar, das trotz des kunstvoll geflochtenen Zopfes fast bis auf den Boden reichte. (7)

„Hans, du musst besser auf dein Schwesterchen aufpassen! (8) Fast wäre sie erstickt“, schalt die Mutter. Sie nahm dem armen Kind den Apfel weg und gab ihm stattdessen eine gelb-goldene Kugel zum Spielen. (9) Das Kind warf die Kugel vergnügt in die Höhe und fing sie wieder auf.

„Pass bloß auf, Kindchen, dass du dir auf dem Schotterweg nicht deine zarten Knie aufschlägst“, rief ihr die Mutter besorgt zu.

Sie hatte recht. Selbst durch meine zertanzten Schuhe spürte ich deutlich die kleinen Kieselsteine, die mir in die Sohle stachen. (10) Da wären Stiefel deutlich besser gewesen! (11)

Ich riss mich los und erinnerte mich ans Weiterlaufen. Meine Oma wartete schon auf mich! Ich überholte einen älteren Mann. Als ich an ihm vorbeilief und ihn grüßte, lächelte er und hob seinen Hut. Nur noch drei Haare standen ungekämmt in die Höhe. (12)

„Sei gegrüßt, junge Maid“, rief er erfreut und nickte mir zu.

Etwas unheimlich war mir dieser alte Mann schon, doch ich lächelte und lief zügig weiter.

Als ich ins Zimmer meiner Oma eintrat, guckte sie mich mit großen Augen an.

„Aber Großmutter, was hast du für große Augen?“, fragte ich sie verdutzt. (13)

„Du bist zu spät und ich habe Hunger!“, motzte sie.

„Schau, ich habe dir leckeren Kuchen und Medizin mitgebracht“, sagte ich und packte meine Tüte aus.

„Pfui Teufel“, beschwerte sie sich, „das ist ja eine Backmischung! Das rieche ich eine Meile gegen den Wind! Zu meiner Zeit hätte es so etwas nicht gegeben!“

„Mama hatte leider nicht viel Zeit“, erklärte ich ihr.

„Seit sie mich in dieses Altersheim gesteckt hat, hat sie überhaupt keine Zeit mehr für mich!“, warf ihr Oma vor. „Aber ich bin ja nicht nachtragend. Etwas Besseres als den Tod finde ich überall.“ (14)

„Oma, sag doch so etwas nicht!“

„Ist doch wahr!“, klagte sie. Obwohl sie das Gebäck naserümpfend musterte, schnitt sie sich ein Stück davon ab und kaute lustlos darauf herum. „Willst du auch ein Stück von diesem leckeren Kuchen essen?“, bot sie mir an.

„Ich bin so satt, ich mag kein Blatt“, wehrte ich dankend ab. (15)

„Dann esse ich eben allein! Wie immer!“ Sie schnitt sich noch ein zweites Stück ab, doch bevor sie es sich auf den Teller legte, entdeckte sie die Krümel auf ihrem Teller.

„Was ist?“, wunderte ich mich.

„Wer hat von meinem Tellerchen gegessen?“, fragte sie. (16)

„Du“, erinnerte ich sie. Es brach mir das Herz, wie sehr sie ihre Demenz beeinträchtigte.

„Aha“, machte sie. „Willst du ein Stück?“, bot sie mir erneut an.

„Nein, danke, Omi“, wehrte ich erneut ab.

Eine Weile unterhielte wir uns, als sie auf einmal ein sehr unglückliches Gesicht machte und sich den Bauch hielt.

„Was rumpelt und pumpelt in meinem Bauch herum?“, fragte sie pansich. (17)

„Oh, du hast deine Magentabletten noch nicht genommen“, fiel mir ein. Schnell kramte ich sie aus der Tüte und gab ihr eine Tablette. Ohne zu zögern spülte sie sie hinunter.

„Besser“, murmelte sie.

Mein Blick auf die Uhr verriet mir, dass ich leider bald schon wieder gehen musste. Es brach mir das Herz, meine Oma wieder allein zu lassen, doch ich versuchte sie alle paar Tage zu besuchen. „Oh, ich muss leider wieder los. Die Arbeit ruft. Aber ich besuche dich übermorgen wieder“, versprach ich. „Was machst du heute noch?“

„Heute back ich, morgen brat ich“, erklärte sie mir. (18) „Von euch bekomme ich ja nichts Gescheites zu essen!“

„Vergiss das Trinken nicht!“, erinnerte ich sie.

„Ja ja“, murmelte Oma, als ich ihr einen Kuss auf die Stirn gab und ihr Zimmer verließ.


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01 Dornröschen

02 Rotkäppchen

03 Hänsel und Gretel

04 Die sieben Raben

05 Das tapfere Schneiderlein

06 Schneewittchen und die sieben Zwerge

07 Rapunzel

08 Brüderchen und Schwesterchen

09 Froschkönig oder Der eiserne Heinrich

10 Die zertanzten Schuhe

11 Der gestiefelte Kater

12 Der Teufel mit den drei goldenen Haaren

13 Rotkäppchen

14 Die Bremer Stadtmusikanten

15 Tischlein deck dich, Goldesel streck dich, Knüppel aus dem Sack

16 Schneewittchen

17 Der Wolf und die 7 Geißlein

18 Rumpelstilzchen

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