Piñata-Schlägerei
Vera Sturm
Die Gruselfans unter deinen Figuren besuchen das Event ,,Kürbis-Pinata auf Schloss Schreckenstein‘‘.
Aufgeregt kam Kim ins Wohnzimmer gelaufen. In der Hand hielt sie ein orangefarbenes Heft, auf dem ein übergroßer Kürbis abgedruckt war.
„Schaut mal, was ich da entdeckt habe“, rief sie aufgeregt und warf sich zwischen uns aufs Sofa.
„Das muss ja etwas Unglaubliches sein, wie stürmisch du bist“, gab ich lachend zu bedenken.
„Bin ich das nicht immer?“ Belustigt schaute sie uns an. Ohne weiter darauf einzugehen, blätterte sie hektisch in dem Heft herum und tippte mit großen Augen auf verschiedene Bilder. Wie ein Kleinkind, das einen Katalog in die Finger bekam und alles wollte.
„Da!“ Mit dem Finger hämmerte sie auf die nächste Seite und blätterte weiter, noch bevor ich überhaupt erkennen konnte, was sie gemeint hatte. „Uh, und das!“ Auch diesmal blätterte sie so schnell weiter, dass ich nicht das geringste erkannte.
„Kim, du bist zu schnell. Ich sehe absolut nichts!“, ließ ich sie wissen. Um sie zu stoppen, legte ich meine Hand mitten ins Heft, sodass sie nicht blättern konnte.
„Aber das ist so aufregend!“, fand sie … und blätterte weiter. Das schaffte wohl nur Kim, denn meine Hand lag noch immer auf der Seite und sie hatte einen Schnipsel in der Hand. Dümmlich guckte sie das Papierstück an.
„Das hast du jetzt davon“, kommentierte Dina.
„Mach die Hand da weg, ich muss weiterblättern!“, fuhr sie unbeirrt fort.
„Was genau willst du uns eigentlich zeigen?“, wollte Dina wissen. Auch sie erkannte keines der Bilder.
„Ah, hier ist es“, stieß Kim voller Begeisterung aus.
„Das hast du die letzten fünf Male auch schon gesagt!“, motzte Dina.
„Aber das habe ich gemeint!“ Sie tippte so stark auf das entsprechende Bild, dass sie es direkt durchstach und mit ihrem Fingernagel ein Loch in die Seite riss.
„Bevor du das ganze Heft zerstörst“, wandte ich ein, „willst du uns nicht einfach sagen, was du entdeckt hast?“
„Ein ganz tolles Kürbis-Pinahata-Fest.“
„Was soll Pinahata sein?“ Davon hatte ich noch nie gehört. Auch Dina guckte ratlos drein.
„Pin-, dann kommt so ein n mit einer Welle darüber und -ata: Pinahata.“ Kurz hielt sie inne. „Oder spricht man das anders aus? Pinata?“
„Piñata, meist du wohl.“ Dina schien herausgefunden zu haben, was Kim meinte. Mit Piñata konnte ich allerdings ebenso wenig anfangen, wie mit Kims Kauderwelsch.
„Und was soll das sein?“, hakte ich daher nach.
„Das wüsste ich auch gerne. Aber es sieht zumindest toll aus“, fand Kim. Ihre Augen leuchteten.
„Die Piñata kommt ursprünglich aus Mexiko und wurde ursprünglich zu religiösen Feiern wie in der Weihnachtszeit verwendet“, klärte Dina uns aus. Sie kannte sich scheinbar damit bestens aus.
„Und was soll das bringen?“, wunderte ich mich.
„Ist doch egal, sie sieht einfach toll aus!“, rief Kim begeistert.
„Die Piñata repräsentiert die Versuchungen und Belohnungen, die im Leben auf diejenigen warten, die Geduld und Durchhaltevermögen zeigen. Im Inneren befinden sich nämlich Süßigkeiten, die erst nach dem Zerschlagen der Piñata herausfallen.“
„Was, man muss geduldig sein und das Ding auch noch kaputtmachen?“ Augenblicklich schien Kim die Lust daran vergangen sein.
„Wir haben es damals auch oft an Halloween gemacht. Mamá hat wirklich tolle Piñatas gebastelt: passend zu Halloween einen Kürbis, eine Hexe oder ein Geisterschloss. Richtig toll. Allerdings ist das eher für Kinder, ähnlich wie die Ostereiersuche.“
„Was? Dafür bin ich nie zu alt!“, beharrte Kim. „Kannst du mir so was bauen?“ Mit großen, flehenden Augen guckte sie Dina an.
„Du bist doch kein Kind mehr“, gab ich lachend zu bedenken.
„Vielleicht äußerlich“, argumentierte Kim.
„Da hast du vollkommen recht.“ Da konnte ich ihr unmöglich widersprechen.
„Ich habe sogar noch eine alte Piñata“, erinnerte sich Dina und kramte eine Weile in einem Regal herum. „Komm, du darfst es ausprobieren.“
Dina hängte die Piñata an eine Schnur und verband Kim die Augen, die daraufhin aufgeregt zu hüpfen begann.
„Bleib stehen, sonst verletzt du dich noch!“, ermahnte Dina sie hastig. Sichtlich mit ungutem Gefühl, gab sie Kim nun einen Stock, womit diese auf die Piñata einschlagen sollte. „Aber vorsichtig, ja?“
„Natürlich!“ Kim tastete sich wild herumfuchtelnd durch den Raum. „Das ist wie Topfschlagen in der Luft, oder?“
„Nur dass mehr kaputtgehen kann“, stimmte Dina ihr zu.
Knapp schlug Kim an der Deckenlampe vorbei und Dina sprang erschrocken auf, um sie in die richtige Richtung zu leiten.
„Die zertrümmert mir noch die ganze Wohnung“, gab sie besorgt zu bedenken. Noch während sie sich wegdrehte, schlug ihr Kim versehentlich mit dem Stock gegen die Schulter und quiekte erfreut auf.
„Ich habe was getroffen!“, gluckste sie und hämmerte wild darauflos.
„Au, Kim, das bin ich!“, empörte sich Dina und brachte sich hastig in Sicherheit. „Jetzt weiß ich auch, wieso es Mamá damals nur draußen gemacht hat.“
„Verständlich“, meinte ich und guckte Kim mit angehaltenem Atem dabei zu, wie sie sich durch die Wohnung schlug.
Endlich hatte sie die Piñata erreicht.
„Bin ich richtig?“, vergewisserte sie sich.
„Ja“, teilte ich ihr mit.
Mit aller Kraft schlug sie nun auf die Piñata ein. Wie ein Boxer, der seinen Gegner krankenhausreif schlagen wollte, drosch sie darauf ein. Dina und ich guckten ihr geschockt dabei zu.
„Ich hätte nicht gedacht, dass solch eine Gewaltbereitschaft in unserer Freundin schlummert“, stutzte sie, worin ich ihr augenblicklich zustimmen konnte. So kannte ich Kim nicht und wollte sie auch gar nicht kennenlernen.
Da hatte Kim die Pappwand durchbrochen und alte, steinharte Süßigkeiten purzelten zu Boden.
„Stopp, du hast es geschafft!“, hielt Dina sie von weiteren Schlägen zurück.
Kim zog sich die Augenbinde ab und machte sich voller Freude über die Süßigkeiten her. Doch als sie sich eine Handvoll in den Mund gestopft hatte, hielt sie inne.
„Die sind ja voll hart“, beschwerte sie sich.
„Ich sagte doch, sie ist alt“, wiederholte Dina. „Die Süßigkeiten, die aus der Piñata fallen, symbolisieren den Sieg über das Böse.“
„Toll, ich habe eine Piñata bezwungen“, meinte Kim und klang dabei alles andere als begeistert.
„So, wie du darauf eingeschlagen hast, hättest du mühelos einen Boxer niedergeschlagen“, wandte ich ein. „Ich denke, du bist eine wahre Siegerin.“
„Sehr schön.“ Kim strahlte, dann stopfte sie sich abermals die alten Süßigkeiten in den Mund und kaute krachend, aber glücklich darauf herum.“