Und plötzlich stand sie vor meiner Tür
Niklas Böhringer
Deine Figuren nutzen ein sich auftuendes Dimensionsloch in deine Welt, um dir zu sagen, was sie von ihren Protastikauftritten halten!
Ich saß am Schreibtisch und schrieb gerade an meinem Buch, als es unerwartet an der Tür klopfte.
„Ich komme!“, rief ich genervt, denn es gibt nichts Schlimmeres, als aus dem Schreiben gerissen zu werden.
Ich öffnete die Tür und – mir stürzte das Gesicht ab. Das war doch nicht möglich!
„Ja bitte?“, sage ich verwirrt.
„Erkennst du mich nicht? Ich bin Kim!“, erklärte sie mir lachend und stürmte an mir vorbei ins Haus.
„Kim“, brachte ich verblüfft hervor. Mehr konnte ich nicht sagen.
„Darf ich in dein Notizbuch schauen?“
„Was?“ Überrumpelt trat ich beiseite und sie lief zielstrebig auf meinen Schreibtisch zu.
„Ach du Schreck. Kim, wie sie im Buche steht. So habe ich mir dich vorgestellt.“ Panisch schaute ich ihr zu. „Kein Wunder, hast du oft Streit. Mit dir würde ich auch nicht lange klarkommen“, musste ich leider gestehen. Ich war mir nicht sicher, ob ich froh sein sollte, dass sie wirklich so war, wie ich es mir vorgestellt hatte – aber nicht in meinem Haus! „Kannst du die Finger bitte aus meinen Notizen lassen?“
„Du kennst mich auch. Du hast mich sogar erfunden. Da habe ich das Recht, dich kennenzulernen“, argumentierte sie.
„Aber doch nicht so! Wie kommst du überhaupt hierher?“, fiel mir jetzt erst auf.
„Dimensionsloch.“ Sie zuckte mit den Schultern. Sie durchwühlte meinen Schreibtisch.
„Du bist ja wirklich, wie ich dich geschrieben habe“, jammerte ich.
„Dann sehe ich das als Kompliment“, kicherte sie, unbeirrt weiterwühlend.
„Wie halten es deine Freunde mit dir aus?“
„Du kannst doch in ihre Gedanken sehen“, meinte sie.
„Stimmt, du bringst sie manchmal tierisch auf die Palme, wenn ich das so sagen darf.“
„Hm, habe ich fast vermutet. Ich bin schließlich gewöhnungsbedürftig, steht da“, sie deutete auf ihre Charakterisierung in meinem Notizbuch, „interessant.“
„Kim, wollen wir einen Kaffee zusammen trinken?“, versuchte ich die abzulenken. Und was soll ich sagen? Wie ich sie geschrieben hatte: leicht ablenkbar. Ich grinste schadenfroh.
„Gerne.“ Sie wandte sich um und marschierte in die Küche.
„Ich bin übrigens Vegetarierin“, setzte sie zu einem Small-talk an.
„Ich weiß, ich habe dich so geschrieben. Ich übrigens auch.“
„Wenn du ohnehin schon alles über mich weißt, warum müssen wir dann noch miteinander reden“, wunderte sie sich und trank einen Schluck Kaffee. „Uff, ziemlich bitter.“
„Wie geht es eigentlich Dina, Vera und Tiago? Wollten sie nicht in dieses Dimensionsloch gehen?“, erkundigte ich mich. Vor allem mit Vera hätte ich mich sehr gern unterhalten. Sie schrieb nämlich wöchentlich Artikel für das Ettlinger Amtsblatt.
Kim schüttelte den Kopf. „Die haben mich als irre abgestempelt. Kann ich ihnen auch nicht verübeln. Mitten im Watthaldenpark ist einfach so ein Licht erschienen und ich bin halt durchgelaufen. Da bin ich nun“, fasste sie erstaunlich gelassen ihr Erlebnis zusammen.
„Du bist da einfach reingegangen? Hattest du keine Angst?“
„Nein, eigentlich nicht. Ich bin schließlich ein Charakter in deinem Buch. Du wirst mich sicher nicht umbringen, bevor das Buch zu Ende ist.“
„Erstens: Ich habe dieses Dimensionsloch nicht geschrieben. Zweitens: Bist du dir da sicher? Woher willst du wissen, wann das Buch zu Ende ist?“ Ich musste schmunzeln.
„Wenn es so richtig scheiße ist und es keinen Ausweg mehr zu geben scheint, dann kann das Buch unmöglich fertig sein. Daher habe ich dir vertraut. Du wirst schon wissen, was du da tust, habe ich mir gedacht.“ Wieder schlürfte Kim an ihrem Kaffee. „Uff, ziemlich bitter.“
„Da hast du recht.“
„Und wie geht die Geschichte aus? Muss ich mir Sogen machen?“ Kim bekam große Augen. Sie beugte sich über den Tisch und war nur wenige Zentimeter von mir entfernt.
„Ich bin kein Zukunftsvorherseher. Das Ende habe ich nur grob im Kopf. Die Figuren haben nämlich ein Eigenleben und nehmen ab einer bestimmeten Stelle die Geschichte selbst in die Hand. Ich kann es im Prinziep nur noch aufschreiben.“
„Wem sagst du das?“ Kim brach in schallendes Gelächter aus. „Ich lebe und habe meinen eigenen Kopf!“
„Oh ja, den hast du“, musste ich zugeben. „Und selbst ich das Ende wüsste, würde ich es dir nicht verraten. Du sollst schließlich nicht wissen, wie es ausgeht. So verliert die Geschichte an Spannung und du an Charakter. Du würdest nur noch so handeln, dass du möglichst schnell ans Ziel kommst.“
„Du etwa nicht?“
„Doch, klar!“, gab ich grinsend zu. „Darum sage ich es dir nicht.“
„Ah, verstehe: Du willst mich in Fallen treten lassen, weil es für den Leser witziger ist.“
„Du hast es erfasst.“
„Ist das gemein!“
„Aber Kim, ich muss sagen, dass ich dich trotzdem sehr ins Herz geschlossen habe. Und falls sich wieder ein Loch auftut, bringe bitte deine Freunde mit. Ich will sie unbedingt kennenlernen.“
Mit einem Grinsen löste sich Kim langsam in Luft auf. „Du hast mir ein Kompliment gegeben …“, war noch leise zu hören.