Wer braucht schon Urlaub?
Vera Sturm
Deine erfolgreichste Figur nimmt eine Auszeit vom „Job“. Was macht sie? Kommt sie auf andere Gedanken?
Urlaub.
Was konnte es Schöneres geben? Für mich war es eher langweilig, nicht im Ettlinger Pressehaus zu sein. Meine Kollegen waren so durchgeknallt, dass es dort nie langweilig wurde: Anita, die streng gläubige Ingwer-Tee-Fanatikerin; Uschi, die in der letzten Mode hängengebliebene Ökotante, für die selbst autarke Schreibmaschinen eine zu anspruchsvolle Technik zu sein schienen; Linus, der Jogginghosen-Freak, der einfach nie seine Klappe halten konnte; und Timo, der Raucher … jap, das war wohl alles bei ihm. Da sollte mich noch einer fragen, warum ich inzwischen nur ungern Urlaub machte. Es war einfach zu amüsant. Da wollte man nichts verpassen, denn fast täglich stand irgendeine Streiterei auf dem Programm, die selbst Kindergartenkinder reifer lösen würden. Zum anderen konnte ich es nicht einfach abschalten, Reporterin zu sein. Ich war zwar offiziell nur von Berufswegen neugierig, doch privat war das nicht anders. Neugierigere Menschen als ich kannte ich kaum.
„He, Vera, wo bist du mit deinen Gedanken?“ Kim stupste mich an. „Pass auf, dass dein Eis nicht schmilzt. Du hast Urlaub, also entspanne dich gefälligst … dein Eis soll nicht entspannen!“
„Was? Ach ja.“ Schnell schleckte ich mein sehr weiches Eis ab. „Kim“, seufzte ich und atmete sehnsuchtsvoll ein, „du wirst es wohl nicht nachvollziehen können, aber ich bin nicht für Urlaub gemacht. Reporterin zu sein ist nicht nur mein Beruf, es ist meine Berufung.“
„Ist doch toll“, fand Kim und lutschte geräuschvoll an ihrer Eiskugel. Ein kleines Kind sah sie entgeistert an.
„Mama, warum darf die da so laut essen und ich nicht?“, beklagte es sich bei seiner Mutter, dass es mindestens die Hälfte der Eisdiele gehört haben musste.
Kleine Kinder … sie waren einfach lustig. Am meisten gefiel mir an ihnen, dass sie so unverblümt ihre Meinung und oftmals die Wahrheit hinausposaunten. Verkäufer müssten auch so sein, denn dann würden sie ihren Kunden nicht jede abstruse Kombination andrehen, nur um Geld zu verdienen. Kinder waren so wundervoll. Vor allem für die Eltern war es aufregend, die ebenso laut eine Ausrede finden mussten, um die betreffenden Personen zu beschwichtigen. Doch ich fand das eigentlich unnötig, schließlich war jedes Kind so – wir waren alle einmal Kinder. Das konnte man ihnen doch nicht krummnehmen!
Doch die Mutter tat ihr Bestes: „Der Frau schmeckt das Eis sehr gut.“
Was für eine schlechte Ausrede!
„Mir hat es aber auch geschmeckt“, jammerte das Kind.
„Das ist schön, aber trotzdem sollst du nicht schlürfen und laut essen. Das macht man nicht“, versuchte es die Mutter erneut.
Ich stand auf und kam ihr zur Hilfe. Ich kniete mich vor den Kleinen hin. „Weißt du“, setzte ich an, dass es auch Kim gut hören konnte, „ganz tief drinnen ist diese Frau noch immer ein kleines Kind. Darum isst sie so laut. Du bist doch sicher schon ein grooooßer Junge, oder?“ Dabei machte ich ausschweifende Gesten.
Die Mutter wusste anscheinend nicht, ob sie geschockt oder dankbar sein sollte. Nach einiger Schweigezeit entschied sie sich dann doch für zweiteres. „Siehst du“, wandte sie sich an den Knirps, „du willst doch mein Großer sein. Da darfst du nicht laut essen.“
Ich zwinkerte der Mutter zu, wuschelte dem Kind durch die Haare und kehrte zu Kim zurück.
„Dein Ernst?“, motze sie. „Ich hab gehört, was du zu dem frechen Kind gesagt hast!“
„Ich weiß. Ich habe der Mutter nur bei der Erziehung geholfen. Du wirst das sicherlich verkraften. Und gib es zu: Du bist ein Kind – tief in dir drinnen.“
„Lass mich doch!“, entgegnete sie trotzig. „Selbst wenn, dann bin ich eben kindisch.“
„Jap, das bist du“, meinte ich schmunzelnd. Das hatte sie nämlich schon oft genug bewiesen. „Und jetzt iss dein Eis gefälligst leise weiter.“
„Ich denke ja nicht dran!“ So geräuschvoll wie möglich schleckte sie den Rest ihrer kalten Süßigkeit auf.
Ein Blick auf das Kind ließ mein eigenes inneres Kind vor Freude fast springen. Der kleine Junge zeigte anklagend auf Kim und wieder hörte man ihn durch die ganze Eisdiele rufen.
„Mama, jetzt isst sie wie ein Schwein!“
„Maxi!“, ermahnte die verzweifelte Mutter streng und ihr stieg augenblicklich die rote Farbe ins Gesicht. Eilig zog sie ihren Sprössling mit sich und verschwand in der Menge.
„Du isst wie ein Schwein, hat der Kleine gesagt“, wiederholte ich es für Kim, dass sie es auch wirklich mitbekam. Ach, in dieser Situation sehnte ich mich wieder zu meinen Kollegen zurück, die sich garantiert ein Feuer an Anschuldigen geliefert hätten. So eine Gelegenheit blieb bei uns nie ungenutzt. Bei Kim war es fast langweilig. Sie schwieg nämlich beleidigt, Anita wäre so erst richtig in Fahrt gekommen. Eher gesagt meine Kollegen, die Anita wieder wegen ihrem Ingwer-Tee aufziehen würden, der ihr den Spitznamen Ingwer-Anita beschert hatte. Sie trank nämlich mehrere Tassen dieses abscheulichen Getränks am Tag und wehe, sie hatte mal keine Beutel mehr, dann wurde sie selbst zum Kleinkind und brach fast in Tränen aus.
„Ich bin nicht für Urlaub gemacht!“, murmelte ich. Klar, als ich noch zur Schule gegangen bin, konnte es nicht oft genug Ferien geben, aber das hatte sich grundlegend geändert, da ich in meinen Kollegen wie eine Familie gefunden hatte. Auch mein Chef, der extrem freundlich und für jeden Spaß zu haben war.
„Das merke ich“, bemerkte Kim schnippisch.
„Tut mir leid, aber es ist die Wahrheit“, gestand ich.