Ist gleich auch fair?
- Niklas Böhringer
- 14. Apr.
- 4 Min. Lesezeit

Eine Geschichte über Gleichberechtigung, Toleranz und Fairness.
In der Dschungel-Schule bekommen die Tiere eine neue Mitschülerin: die Giraffe. Diese kann zwar alles, was der Affe, der Elefant und die Schildkröte können, aber eben nicht so gut. Als die Tiere von ihr wissen wollen, worin sie unschlagbar ist, erschrickt sie. Darüber hat sich die Giraffe noch nie Gedanken gemacht. Gemeinsam finden die Tiere heraus, was die Stärke der Giraffe ist und dass nicht jeder alles können muss. Denn es genügt völlig, eine Sache gut zu können. Es ist okay, nicht alles zu können. Denn gemeinsam ist man unschlagbar!
Diese Geschichte entstand im Rahmen eines Grundschulprojekts rund um das Thema Gleichberechtigung, Toleranz und Fairness.
Ist gleich auch fair?
Es ist doch voll unfair, wenn nicht jeder genau das Gleiche bekommt, oder?
Gerade hatten die Tiere der Dschungel-Schule Pause. Der Affe turnte an einer Liane und veranstaltete dabei ein lautes Geschrei. Niemand sonst konnte so gut klettern wie er. Der Elefant hob ein paar Baumstämme, um seinen Rüssel zu trainieren. Niemand sonst war so stark wie er. Und die Schildkröte übte sich im regungslosen Dastehen, um sich zu sonnen. Niemand sonst konnte so lange stillstehen wie sie. Das machten die Tiere gerne, denn das konnten sie gut, das war ihre Stärke. Und da sie das gut konnten, machten sie das jeden Tag. Sie taten das, was ihnen Spaß machte.
Einmal war jedoch ein ungewöhnlicher Tag. Die Tiere bekamen eine neue Mitschülerin in die Klasse: die Giraffe. Sie war sehr eitel und hielt sich für besonders. Mit ihrem langen Hals konnte sie eine ebenso gute Aussicht genießen wie der Affe an seiner Liane. Mit ihren kräftigen Beinen konnte sie ebenso große Baumstämme rollen wie der Elefant. Und stillstehen, das war nicht schwer. Das konnte sie ebenso gut wie die Schildkröte.
Das wäre auch alles kein Problem gewesen, doch die Giraffe, die all das konnte, fühlte sich dadurch den anderen überlegen und begann, sie dafür zu ärgern.
„Sieh nur, ich kann so weit sehen wie du, Affe, und kann trotzdem stillstehen und Baumstämme bewegen“, sagte die Giraffe zum Affen, der durch die Lianen sprang.
Aber der Affe wollte gar nicht stillstehen oder Baumstämme bewegen können. Der Affe wollte nur in die Ferne sehen und die Aussicht genießen.
„Sieh nur, ich bin so stark wie du, Elefant, und kann trotzdem in Ferne sehen und dabei stillstehen“, sagte die Giraffe zum Elefanten, der Baumstämme hob.
Aber der Elefant wollte gar nicht in die Ferne schauen oder stillstehen können. Der Elefant wollte nur Baumstämme heben und seinen Rüssel trainieren.
„Sieh nur, ich kann so still dastehen wie du, Schildkröte, und kann trotzdem Baumstämme bewegen und in die Ferne sehen“, sagte die Giraffe zur Schildkröte, die ganz still dastand und sich nicht bewegte.
Aber die Schildkröte wollte gar keine Baumstämme bewegen oder in die Ferne schauen. Die Schildkröte wollte nur still dastehen und die Sonne genießen.
Als die Pause vorüber war, begann die Giraffe, den Affen, den Elefanten und die Schildkröte auszulachen. „Ihr könnt ja nur eine Sache und ich bin in allem gut.“
„Du bist aber nicht so gut wie ich“, sagte der Affe, „du kannst zwar in die Ferne schauen und die Aussicht genießen wie ich, aber du kannst dich dabei nicht durch die Lianen schwingen und laut schreien.“
„Du bist aber nicht so gut wie ich“, sagte der Elefant, „du kannst zwar Baumstämme bewegen wie ich, aber du kannst sie nicht mit deinem Rüssel anheben, um diesen zu trainieren.“
„Du bist aber nicht so gut wie ich“, sagte die Schildkröte, „du kannst zwar still dastehen wie ich, aber dabei zittern deine Knie und du kannst dich nicht in deinem Panzer verkriechen.“
Da erkannte die Giraffe, dass die anderen Tiere es tatsächlich besser konnten, als sie und sie selbst nur versucht hatte, so zu sein wie der Affe, wie der Elefant und wie die Schildkröte.
„Und was ist deine einzigartige Stärke?“, fragten die Tiere.
Aber darauf fand die Giraffe keine Antwort. Sie hatte immer in allem gut sein wollen, sodass sie gar nicht geschaut hatte, worin nur sie so gut war, was nur sie perfekt konnte.
„Du musst etwas finden, das nur du perfekt kannst“, meinte der Affe.
„Du musst etwas finden, das niemand anderes so gut kann wie du“, meinte der Elefant.
„Du musst etwas finden, das dir Spaß macht, denn darauf kommt es an“, meinte sie Schildkröte.
Und so dachte die Giraffe nach. Sie konnte zwar weit sehen, aber nicht durch Lianen springen. Sie konnte zwar Baumstämme bewegen, aber nicht anheben. Sie konnte zwar still dastehen, aber nicht ohne mit den Knien zu zittern.
Da erklang die Pausenklingel noch einmal und die Giraffe rannte eilig in die Dschungel-Schule hinein. Und da erkannte sie, was ihre Stärke war. Sie konnte schnell rennen – und zwar schneller als der Affe, schneller als der Elefant und schneller als die Schildkröte. Das konnte sie perfekt, niemand anderes konnte es so gut wie sie, und es machte ihr Spaß. Ja, endlich hatte die Giraffe gefunden, was ihre Stärke war: schnell zu rennen. Und darin war nur sie unschlagbar.
So erkannte die Giraffe, dass nicht jedes Tier alles können musste. Es reichte, wenn jedes Tier seine ganz besondere Stärke hatte. Und vereint konnte jedes Tier von den anderen profitieren. Vereint konnten sie alles.
Das wollte ihnen auch der Lehrer zeigen. Er hatte nämlich eine ganz besondere Aufgabe vorbereitet. Eine Aufgabe, die jeder von ihnen machen sollte. Eine Aufgabe, die für alle gleich war, denn wenn jeder das Gleiche machen muss, ist es schließlich fair! Oder etwa nicht?
Der Lehrer räusperte sich, rückte seine Brille zurecht und verkündete: „Für eine gerechte Leistungsbewertung lautet die Aufgabe für alle gleich: Klettert auf diesen Baum.“
Und da wusste die Giraffe, dass diese Aufgabe ganz und gar nicht fair war, denn jedes Tier hatte seine ganz eigene Stärke. Nur vereint konnten sie diese Aufgabe lösen, wenn jedes Tier seine ganz eigene Stärke einbrachte, um die anderen zu unterstützen. Und selbst Unterstützung zu bekommen, worin es eben nicht so gut war.
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