Christ Child in special operation
Kim Posse
Deine mürrischste Figur soll das Christkind spielen und Geschenke an die Familie und Freunde verteilen. Was geschieht?
„Nein, ich mache das nicht. Sucht euch eine andere Dumme!“
Tja, ich hatte mich zwar widerspenstig gewehrt, hatte allerdings nach einer mehrsekündigen Diskussion keine Argumente mehr parat gehabt, und musste mich nun meinem Schicksal hingeben.
Als Engel oder Christkind verkleidet, was es auch immer war – irgendwas mit Flügeln –, stand ich vor der Haustür von Veras Cousine und beobachtete meinen Finger, wie er sich nach dem Klingelknopf ausstreckte. Aus purem trotz klingelte ich mit dem Mittelfinger, um meinen Ärger zum Ausdruck zu bringen.
Da wurde bereits die Tür aufgerissen und ein kleines Mädchen stand freudestrahlend vor mir. „Mama, Mama, das Christkind ist da!“, rief es begeistert.
„Ja, ich bin das Christkind. Von Drauß, vom Walde komm ich her …“ Ich stockte. War das überhaupt der richtige Text? Unbemerkt zückte ich meine Karteikarten und bemerkte mit Schrecken, dass ich gerade in der völlig falschen Rolle steckte. Zum Glück bemerkte Klein-Vera meinen Textunfall nicht. Mit großen Augen guckte sie mich an und wartete, bis ich weiteren Quatsch von mir gab.
„Warst du denn auch brav dieses Jahr?“, fand ich in meine Rolle zurück.
Klein-Vera nickte heftig, sodass ihre geflochtenen Zöpfe wackelten. „Ja, ich habe Mama beim Ausräumen der Spülmaschine geholfen, den Müll rausgebracht …“
Ihrer Aufzählung schenkte ich gar keine Beachtung. Ungeduldig wartete ich darauf, bis sie endlich fertig war. Es interessierte mich nicht, was sie alles gemacht hatte. Ich hatte einen Sack mit Nüssen und Orangen dabei, den ich dem nervigen Kind geben sollte, doch dafür musste es erst einmal die Klappe halten. Allerdings war Klein-Vera ziemlich fleißig und artig gewesen. Sie hörte gar nicht mehr auf zu reden.
„… dem Hund unserer alten Nachbarin ausgeführt ohne Geld zu verlangen …“, erzählte sie gerade.
„Wieso?“, rutscht es mir heraus. Gerade bei älteren Leuten konnte man doch einiges verlangen. Wusste sie das etwa nicht? Doch ich durfte nicht aus meiner Rolle schlüpfen. Als Christkind sollte ich ihr schließlich Geschenke überreichen, sie für ihren Einsatz und die guten Taten loben und keine Finanztipps geben. Zumal die Mutter an der Tür stand und mich grimmig anschaute. Anscheinend entsprach ich nicht ihren Erwartungen. Verzweifelt versuchte ich mich daran zu erinnern, ob ich noch irgendetwas sagen musste. Doch mir wollte einfach nichts einfallen. Hatten wir noch etwas vereinbart gehabt?
„Du bist ja ein artiges Kind“, lobte ich dieses Vorbild-Mädchen. „Dafür habe ich dir etwas mitgebracht.“ Ich griff in den Sack hinein und zog die Orange hervor. Damit fuchtelte ich grinsend vor ihren Augen herum. „Fang sie, dann bekommst du sie.“
Die Augen der Mutter weiteren sich. Durfte ein Christkind etwa keinen Spaß machen? Anscheinend nicht. Ihre Blicke begannen gerade, mich langsam zu erwürgen.
Augenblicklich bildete sich ein Klos in meinem Hals. Ich wollte nur noch weg. Ganz schnell. So drückte ich Klein-Vera den Sack in die Hand und sagte: „Weißt du was, nimm alles. Das hast du dir wirklich verdient.“ Dass die Mutter ihr Kind zur Dankbarkeit und Genügsamkeit erziehen wollte und mir die klare Anweisung gegeben hatte, lediglich eine Organe und zwei Walnüsse zu geben, ignorierte ich.
Freudestrahlend griff sie danach. „Danke, liebes Christkind.“
Ich nickte, lächelte, dann machte ich mich schleunigst aus dem Staub. Die nächste Straßenecke nicht einmal erreicht, klingelte bereits mein Handy. Es war Vera. Anscheinend hatte ihre Tante sie sofort informiert und sich über das grauenvolle Christkind beschwert. Na super, meine Garage für diesen Auftritt konnte ich wohl vergessen.
„Wieso habe ich mich überhaupt auf diese Scheiße eingelassen?“, schnauzte ich ungehalten ins Telefon und legte auf, ohne eine Antwort abzuwarten. Ein Kind, das gerade an mir vorbeilief, guckte mich mit großen Augen an. Es hatte einen röchelnden Mops an der Leine, der … oh, ganz die Mama!
„Ja, auch das Christkind kann mal schlechte Laune haben. Das ist vollkommen normal. Vor allem zu Weihnachten, wenn der Terminkalender überlauft und man es niemandem recht machen kann.
„Mama.“ Noch immer mit weit aufgerissenen Augen drehte sich der kleine Hundehalter zu seiner Mops-Mama um, die mich noch gar nicht bemerkt hatte. Sie telefonierte ebenfalls. „Das Christkind sagt, Weihnachten ist scheiße.“
„Warte, Knirps, das habe ich nicht behauptet“, gab ich gefrustet von mir. „Erzähle nicht solche Lügen. Lügen darf man nämlich nicht. Sonst hetze ich dir den Knecht Ruprecht auf den Hals, das sage ich dir. Ich habe seine Nummer!“
„Mama!“ Der Kleine klang nun ziemlich verzweifelt, doch seine Mutter reagierte noch immer nicht.
Unter anderen Umständen hätte er mir sicherlich leid getan, doch gerade suhlte ich mich in Genugtuung. Wenn nicht dieser doofen Mir-ist-niemand-gut-genug-Mutter von klein Vera, so konnte ich an diesem Kind meinen christkindlichen Groll ablassen. Diesem armen, unschuldigen Kind, das einfach nur mit seinem Hund unterwegs war und seine Mutter sich nicht im Geringsten für ihn interessierte.
„Oh nein, es tut mir ja so leid.“ Schnell kniete ich mich neben den Jungen. „Das darf nicht vorkommen. Nicht einmal an Weihnachten unter größtem Stress und unausgeglichener Work-Life-Balance, gestrichener Gage unter Mindestlohn und mies kratzenden Klamotten darf sich das Christkind so aufführen. Hörst du?“ Beschämt wartete ich auf eine Reaktion des Kleinen.
Anstatt einer Antwort fiel er mir einfach um den Hals. „Danke, dass du dich entschuldigt hast. Schon okay. Meine Mama reagiert auch oft über, wenn sie gestresst ist. Das sagt sie jedenfalls immer.“
„D-dann ist ja gut.“ Nein, das war es ganz sicher nicht. Seine Mama sollte nicht so mit ihm umgehen. Auch wenn sie aussah wie ein Mops. Ich musste dringend etwas tun. Denn wann, wenn nicht an Weihnachten, konnten Wunder wahr werden? Sollte ich die Polizei verständigen, das Kinderheim? Nein, diese Idee verwarf ich schnell wieder.
„He, Sie, passen Sie gefälligst auf. Sie wären fast in mich hineingerannt!“, schnauzte ich die Frau stattdessen an.
Endlich schaute sie auf und nahm das Handy vom Ohr. „Wie?“, fragte sie verdattert.
„Laufen mit den Füßen, denken mit dem Kopf, sehen mit den Augen!“, maulte ich. Mein Blick fiel auf den Jungen, der traurig aussah. „Und sehen mit dem Herz! Gerade in der Weihnachtesszeit! Lassen Sie sich das gesagt haben.“
„Für wen halten Sie sich eigentlich?“
„Für das Christkind!“ Ich warf mir die Locken über Schulter, schenkte dem kleinen Jungen ein kurzes Lächeln, der Mops-Mutter warf ich einen strafenden Blick zu, dann stiefelte ich hoch erhobenen Hauptes und mit wippenden Flügeln in die Dunkelheit davon. Was für ein pompöser Auftritt!