Depressionen
Vera Sturm
Deine disziplinierteste Figur verliert die Kontrolle. Wie ist es nur so weit gekommen?
„Ich verstehe nicht, wie manche Leute so ignorant sein können!“ Entsetzt auflachend schüttelte Kim ihren Kopf. „Ich bin fassungslos!“
„Kim, das sind bloß die Nachrichten“, versuchte ich sie zu beschwichtigen. Genau aus diesem Grund guckte ich nur ungern mit Kim Fernsehen, da es meist in einer nicht enden wollenden, sich im Kreis drehenden Diskussion endete. Genervt stierte ich auf den Bildschirm, der die alltäglichen Verbrechen darstellte.
„Wisst ihr, wie die mächtigste Organisation der Welt heißt?“, riss mich Dina unerwartet aus meinem Starren.
„Bestimmt irgendeine gläubige Gruppe. Letztens wurde ich auf der Straße angesprochen, ob ich nicht an Gott glauben möchte. Es sei nie zu spät, hat mir die Frau versichert. ‚Darf ich Ihnen eine Medaille schenken?‘, hat sie gefragt und als ich es erlaubt hatte – mein Fehler wurde mir in derselben Sekunde bewusst – schenkte sie mir ein Metallplättchen mit Jesus und einen ganzen Berg an Flyern, die ich direkt in den nächsten Mülleimer geschmissen habe. Verrückt, oder?“
„Unfassbar!“ Kim musste schlucken. „Und das am helllichten Tag.“
„Als ob das nachts besser wäre!“, stöhnte ich genervt auf.
„Es hat nichts mit Religion zu tun“, setzte Dina wieder an.
„Stimmt, du wolltest ja einen Witz machen oder irgendwas wissen“, fiel mir auf. „Siehst du, das habe ich schon wieder vergessen. So egal ist mir das!“
„Vera, was ist mit dir nur los?“, wollte Dina wissen. „Du bist doch sonst nicht so.“
„Du bist doch sonst nicht so“, äffte ich sie nach. „Kann ich jetzt bitte die Nachrichten zu Ende schauen? Ich muss doch wissen, wer nun wieder umgebracht wurde. Alles hoch interessant in dieser Welt: Inflation, Klimawandel, Krieg, Armut, Vergewaltigung, Mord, Flüchtlinge, …“ Melancholisch wandte ich mich wieder der Flimmerkiste zu, die schon seit Wochen immer nur dasselbe zeigte. All diese Krisen zogen mich in ein bodenloses Loch. Zu allem Übel musste ich auch noch über diesen Mist meine Artikel schreiben. Immer öfter fragte ich mich, wieso ich überhaupt Reporterin hatte werden wollen. Inzwischen bereitete es mir nur noch Sorgen und Kummer, der Spaß war schon lange verpufft.
„Ich bin ja schon still“, gab Dina geschockt zu.
„Aber ich will es hören. Wie heißt die weltgrößte Organisation?“, interessierte sich Kim.
Insgeheim wollte ich es auch hören, wollte es aber nicht zugeben.
„Die weltgrößte Organisation heißt Idioten“, platze Dina lachend heraus.
„Idioten?“
„Ja, die haben überall ihre Leute“, fügte Dina hinzu.
„Wohl wahr. Zwei direkt neben mir“, murrte ich und verdrehte genervt die Augen.
„Vera, ich mache mir wirklich Sorgen um dich!“, meinte Kim. „Kann es sein, dass du Depressionen hast oder so? Du siehst furchtbar aus.“
„Ich? Guck dich mal an! Hast du dich mit einer Bombe frisiert oder was ist schiefgegangen?“
„Vera!“ Empört und entsetzt zugleich stand Kim auf. Fassungslos schüttelte sie den Kopf. „Wie kannst du so etwas sagen? Wir sind doch Freundinnen!“
„Gerade darum sage ich es zu dir, sonst sagt dir wohl niemand etwas“, gab ich genervt brummelnd von mir.
„Kim, hör nicht auf Vera! Du siehst fantastisch aus!“, munterte Dina sie sofort auf. „Nun ja, auf jeden Fall siehst du gut aus“, fügte sie etwas leiser hinzu, doch ich hörte es genau.
„Lasse deine Wut bitte nicht an uns aus!“, bat Kim mich. „Es gibt genug andere Leute. Wollen wir in den Park, da ist die Auswahl groß.“
„Das ist nicht dein Ernst, Kim“, ermahnte Dina sie augenblicklich.
„Mein voller Ernst. Fremde kann man mit Worten nicht so sehr verletzen, da sie einem nichts bedeuten. Wenn sie noch länger über mich herzieht und lügt, breche ich zusammen. Ich halte das nicht aus.“ Kim schluchzte. „Das war nämlich richtig fies von dir, Vera, das hat mich sehr verletzt!“
„Pff, wen interessiert‘s?“ Ich zog die Nase kraus. „Geht doch, ich brauche euch nicht.“
„Nein, gerade jetzt gehe ich nicht!“, beschloss Dina zu meinem Entsetzen. „Mit dir stimmt etwas ganz und gar nicht. Du brauchst dringend Hilfe, Vera. Selbst wenn du mich noch so sehr beleidigst, ich werde nicht gehen! Ich will endlich wissen, was mit dir los ist. Wenn du nicht mit mir redest, schleppe ich dich eigenhändig zu einem Arzt!“
„Drohst du mir etwa?“ Grantig sah ich sie mit funkelnden Augen an. „Du bist nicht ganz bei Trost. Ihr seid verrückt! Alle miteinander!“
„Ich halte das nicht länger aus“, schniefte Kim.
„Ja, heul‘ doch! Das kannst du doch so gut!“, setzte ich hinzu.
„Vera, das geht echt gar nicht! Nimm dich etwas zurück! Merkst du nicht, dass du dich vollkommen verändert hast?“, redete Dina auf mich ein.
„Was sagtest du noch? Idioten sind überall? Jap, zwei stehen direkt vor mir!“
„Dir ist wirklich nicht mehr zu helfen, du Monster“, kreischte Kim.
„Nicht, das bringt doch nichts“, beruhigte Dina sie. „Vera ist krank, auch wenn sie es nicht wahrhaben will.“
„Ich soll krank sein? Und was habe ich, Doktor Besserwisserin?“
„Eine miese Laune und keine Manieren!“, setzte sie mir entgegen.
„Pah, ich darf eine solche Laune haben wie ich es will. Es fliegen eben nicht nur Einhörner durch die Gegend, fressen Zuckerwatte und tanzen auf Regenbögen. Die Welt ist düster, böse und herzlos! Wer kann da noch glücklich sein? Wälder werden niedergebrannt, Tiere ausgerottet, Meere vermüllt. Die Welt wird von uns Menschen zerstört und ihr wollt glücklich sein?“ Ich spürte, wie eine Wut in mir brodelte und ich am liebsten die ganze Menschheit vernichtet hätte. „Stellt euch das doch einmal vor“, ich musste auflachen, „wir fliegen auf einem Haufen Dreck durchs All, der von uns langsam zerstört wird. Dennoch gibt es Krieg. Und wegen was? Macht, Gier, Geld. Pah, wer braucht das schon? Dafür zahlen, dass man auf einem Haufen Dreck irgendein giftiges Zeug ins Auto pumpen darf, um die Welt zu verpesten, nur um nicht den eigenen faulen Arsch zu bewegen.“ Ich kniff die Augen zusammen und sah Dina eindringlich an. „Und nun sag mir, es gäbe keinen Grund, schlechte Laune zu haben!“
„Es gibt mehr als einen, aber davon solltest du dich nicht so herunterziehen lassen. So traurig es ist, wir können es nicht ändern. Und was willst du machen? Bis ans Ende deiner Tage schlechte Laune haben und allen das Leben schwer machen?“
Ich nickte. „So der Plan.“
„Du hast sie nicht mehr alle. Du hast ein massives Problem, liebe Freundin. Ich helfe dir!“
Ehe ich mich versah, zerrte mich Dina aus meiner Wohnung in ihr Auto hinein und fuhr mich in … den Park?
„Was soll ich hier?“, maulte ich.
„Den Menschen die Ohren vollheulen, ich bin es leid. Kim hatte eine gute Idee. Vielleicht siehst du, wie schön es hier im Park ist und bekommst bessere Laune.“
„Danke“, freute sich Kim, dass Dina ihre Idee befürwortete.
„Vera“, flüsterte sie mir ins Ohr, „ich habe auf deinem Esstisch den ärztlichen Befund gelesen. Du hast Depressionen!“
„Schon mal was Privatsphäre gehört?“, keifte ich entsetzt. Diese Diagnose wollte ich nicht wahrhaben. Andererseits trieb es mich wohl so weit, meine Freundschaft zu Kim und Dina noch zu zerstören. Ich brauchte Hilfe. Dringend. Das hatte ich gerade erkannt.
„Vera, wir helfen dir. Dafür sind Freunde da“, versicherte Dina mir und nahm mich in den Arm.
Da konnte ich mich nicht mehr beherrschen und ließ meinen Tränen einfach freien Lauf. „Danke!“, flüsterte ich.