Frohes neues Jahr
Vera Sturm
Silvester / Neujahr - Teil 02
Silvester / Neujahr 02: Frohes neues Jahr
Gebannt standen wir nebeneinander und zählten sie letzten Sekunden. Es war 23:59 Uhr. Noch zehn Sekunden bis Mitternacht.
„… drei – zwei – eins – null“, zählten wir gemeinsam herunter. Die Uhr schlug um.
Neujahr. 2023.
00:00
01. Januar 2023
„Ahh“, kreischte Kim. „Happy New Year!“ Dann fiel sie uns allen um den Hals.
„Frohes neues Jahr“, wünschten wir uns gegenseitig und umarmten uns.
„Möge unsere Freundschaft für immer bestehen“, rief ich, dann tranken wir gemeinsam unseren Orangensaft.
„Und jetzt wird geschossen“, freute sich Tiago. Er leerte sein Glas in einem Zug und holte dann die Raketen und Böller herbei, die er mitgebracht hatte. „Kommt, ich warte draußen.“
Wir zogen uns alle warm an, dann folgten wir ihm, bewaffnet mit Feuerzeugen und Sternregen.
„Wer will den ersten Böller anzünden und das neue Jahr willkommen heißen?“, wollte er wissen.
„Ich bevorzuge meinen Sternregen“, meinte Kim und trat einen Schritt zurück. „Ich mag keine Böller.“
Sie klickte zwei, drei Mal mit dem Feuerzeug, dann sprühte das Stäbchen in ihrer Linken helle Funken. „Ich wünsche jetzt erst einmal deinen Nachbarn ein frohes neues Jahr. Bis später.“ Damit machte sie sich auf den weg. Kurz darauf war sie verschwunden.
„Weg ist sie“, lachte Dina und schaute ihr hinterher.
„Dina, wollen wir zusammen zwei Raketen in den Himmel schießen? Eine für dich, eine für mich. Sie soll symbolisch für unsere Verbundenheit stehen.“
„Sehr gerne“, freute sich Dina und gemeinsam bereiteten sie den Abschuss vor.
Sie steckten ihre Raketen jeweils in eine leere Spreng-Batterie. Gemeinsam zählten sie auf Drei, dann entzündeten sie die Zündschnur. Nur wenige Sekunden versetzt zischten beide Raketen in den Himmel und hinterließen schwarze Ränder auf dem Boden. Beide Raketen schossen hinauf – beide in unterschiedliche Richtungen.
„Ein sehr schönes Symbol, wenn die beiden Dinger in zwei komplett unterschiedliche Richtungen schießen. Das macht für mich Zusammenhalt aus!“, murmelte ich belustigt. Dann gab es eine mehr oder weniger kümmerliche Explosion, die nicht sehr farbenfroh war.
„Was? Ich habe dich nicht verstanden“, rief mir Tiago zu. „Die Rakete war so laut.“
„Ich meinte, dass es ein sehr schöner Anblick ist“, log ich, wofür er mir ein Lächeln schenkte.
Dina und Tiago standen eng umschlungen beieinander und küssten sich, während eine weitere Rakete hinter ihnen in den Himmel schoss. Diesmal explodierte sie farbenprächtig hoch oben in der Nacht.
Wenige Augenblicke später tauchte Kim wieder auf. „Herrje, hast du viele Nachbarn“, seufzte sie. „Hätte ich das bloß früher gewusst. Dann wäre ich nicht die ganze Straße abgelaufen.“
„Echt?“, stutzte ich. Ich kannte nicht einmal alle Nachbarn dieser Straße.
„Klar, Neujahrsglückwünsche verbreiten ist sehr wichtig“, fand sie. Ihre Wunderkerze war inzwischen auch erloschen. „Können wir wieder reingehen? Mir sit kalt.“
„Jetzt schon?“, gab Tiago enttäuscht zu bedenken. „Na gut, unsere Raketen haben wir ja abgefeuert.“ Er schenkte Dina ein zärtliches Lächeln und hauchte ihr noch einen Kuss auf die Wange.
Einfach süß und herzerwärmend, die beiden!
„Kennt ihr Dinner for One?“, wollte Kim wissen.
„Das gucken wir eigentlich immer“, stimmte ich ihr zu. „In Deutsch heißt es Der 90. Geburtstag.“
„Dann los, ich liebe diesen Streifen. Miss Sophie ist so eine herzliche und lustige alte Dame. Ich gucke ihr immer gerne zu. Auch ihren Butler James mag ich. Diese Geschichte verkörpert auch gut unsere Freundschaft. Wir feiern auch immer zusammen.“
„Nur, dass wir nicht alle tot sind“, meinte ich.
„Natürlich nicht!“, rief sie erstaunt aus.
„Kommt, dann gucken wir es an“, erklärte ich und machte es mir auf dem Sofa bequem. Meine Freundinnen ebenfalls, nur Tiago nicht.
„Willst du nicht hinsitzen?“, fragte ich ihn, als er bereits das zweite Mal ums Sofa lief.
„The same procedure as last year, Miss Sophie?“, fragte er mich.
„The same procedure as every year, James“, antwortete ich ihm lachend. „Und jetzt setzt dich!“
Bevor er sich setzte, füllte er unsere Gläser noch einmal nach. „Skål!“ Dabei schlug er seine Hacken zusammen.
„Quatschkopf!“, lachte Dina. „Nun setzt dich endlich zu mir!“
„Soll ich Ihnen die Fernbedienung bringen, Miss Vera?“, fragte er.
„Jetzt sei doch leise“, kicherte ich, während ich den Fernseher einschaltete. Die Fernbedienung hatte ich längst in meiner Hand. Seit ein paar Jahren hatte ich das Bühnenstück auf DVD, um es immer ansehen zu können und nicht extra auf die Ausstrahlung warten zu müssen.
Das schwarz-weiße Theaterstück begann und Miss Sophie schritt anmutig die Treppe hinunter. Ihr Butler James begrüßte sie sogleich. Auch all ihre toten Gäste waren wieder anwesend, um mit ihr zu feiern: Sir Toby, Admiral Schneider, Mr. Pommeroy und zu guter Letzt Mr. Winterbottomt.
Kim lachte bereits beim ersten Stolpern über den Kopf des Tigers so sehr, dass ich noch befürchtete, sie bekäme auch bald einen Platz an diesem Tisch zwischen all diesen Toten.
„Kim, beruhige dich mal wieder. Noch ist nichts passiert. Er ist erst einmal gestolpert!“, meinte ich. „Nicht, dass du bald ebenfalls an diesem Tisch sitzt.“
„Wieso das?“
„Wenn du dich totlachst, ist es nicht mehr lange hin“, meinte ich.
„Ich warte jedes Jahr 365 Tage auf diesen Moment, da darf ich doch endlich lachen!“, verteidigte sie sich.
„365 Tage und ¼“, verbesserte Tiago sie.
„Hä, wieso das?“
„Alle vier Jahre ist Schaltjahr. Daher gibt es vier Jahre lang jeweils einen viertel Tag.“
„Happy New Year!“, rief Kim, um Tiago zum Schweigen zu bringen.
„Frohes neues Jahr!“, schloss ich mich an.
„¡Feliz Año Nuevo!“, fügte Dina hinzu und beendete die Diskussion mit einem Kuss, damit Tiago nichts mehr sagen konnte.