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Me in the mirror

Kim Posse

Deine Figur, die normalerweise einen Clown verschluckt hat, steht vor dem Spiegel und fängt an, mit sich selbst zu streiten. Was werfen sie sich gegenseitig an den Kopf?

Müde schleppte ich mich ins Bad. Jeden Morgen das gleiche Grausen. Ich war es wirklich leid, wieder und immer wieder meinem Spiegelbild gegenüber zu treten. Es sah genauso aus, wie ich mich morgens fühlte.

„Guck nicht so, diesen Anblick müsstest du inzwischen gewöhnt sein“, maulte ich mein Spiegelbild an, das mir boshaft entgegen lächelte.

Verschlafen tastete ich nach meinem Kamm und machte mir die Haare. Artig spiegelte das Spiegelbild meine Bewegungen.

Als ich mich schminke, folgte die Hand der Spiegel-Kim meiner brav. Sorgsam umrundete ich mir die Augen mit schwarzem Kajal, trug Lippenstift auf und puderte mir die Nase. Doch als ich einen Moment zu lange in den Spiegel blickte, stutzte ich. Hatte sich mein Spiegelbild gerade anders bewegt? War das möglich? Erneut verharrte ich, doch es schien alles wie immer.

„Du bist noch müde, Kim“, redete ich mir ein. Woran sollte es auch sonst liegen. Als ob sich ein Spiegelbild selbstständig machen konnte!

Für den letzten Feinschliff meiner Schminke beugte ich mich weit nach vorn, um ganz genau sehen zu können, was ich vollbrachte. Mit geübten Bewegungen zog ich die Linien nach. Doch mein Spiegel-Ich hatte scheinbar eigene Pläne und malte plötzlich wild in meinem Gesicht herum!

„Ey, was ist denn jetzt los?“, entfuhr es mir fassungslos.

Malen, malen, malen!, brabbelte das wild gewordene Wesen im Spiegel vor sich hin. Es klang zwar nach meiner Stimme, jedoch so heiser, als hätte ich über Wochen auf einem Heavy-Metal-Konzert mitgegrölt.

„W-was …“, brachte ich verblüfft gerade noch heraus, ehe ich verstummte. Schleunigst rannte ich aus dem Badezimmer, um meine Mitbewohnerin zu alarmieren.

„Lisa, hat sich dein Spiegelbild auch schon einmal selbstständig gemacht?“, keuchte ich, als ich in ihr Zimmer stürmte.

„Was?“ Erschrocken zuckte sie zusammen und blickte mich an. Als sie mich erblickte, entfuhr ihr ein schrilles Lachen. „Kim, wie siehst du aus? Nur, weil dir etwas beim Schminken schief gegangen ist, behauptest du jetzt, dein Spiegelbild lebt? Du bist echt bekloppt!“

„Aber das war ich nicht!“, beharrte ich. Im Spiegel ihres Kleiderschrankes konnte ich das volle Chaos in meinem Gesicht sehen. Mein Spiegelbild-Ich hatte unentwegt gewütet und schien noch nicht fertig zu sein. Mit Schrecken konnte ich beobachten, wie sich noch immer neue Linien in meinem Gesicht bildeten.

„Kim?“ Lisa hatte es auch bemerkt. „Was geht hier vor?“, stieß sie panisch aus.

„Das …“ Es brauchte einen Moment, bis ich mich wieder gefasst hatte. „Das versuche ich dir doch schon die ganze Zeit zu erklären! Aber du hörst mir ja nicht zu! Ich habe keine Ahnung, was hier los ist. Mein Spiegelbild dreht durch. Hilf mir!“

Malen, malen, malen!, hörten wir meine heisere Stimme aus dem Bad krächzen.

„Malen?“ Lisa war irritiert. „Das klang wie du!“

„Ich weiß, und dieses Monster im Spiegel sieht auch genauso aus wie ich. Es ist ja mein Spiegelbild.“

„Scheiße, Kim, wie ist so etwas überhaupt möglich. Bist du einen Pakt mit dem Teufel eingegangen oder so?“

„Eigentlich nicht.“ Angesichts der Tatsachen glaubte ich mir das jedoch selbst nicht richtig.

Lisa nahm meine Hand, dann kehrten wir langsam ins Bad zurück – an den Ort des Bösen. Obwohl ich nicht in seinem Blickfeld stand, tanzte die Spiegelbild-Kim weiterhin munter mit dem Pinsel durch mein Gesicht und malte. Das Resultat bildete sich in meinem eigenen Gesicht ab.

Lisa wagte einen Versuch und stellte sich dem Spiegel. Anstatt ihrem Spiegelbild, stand noch immer meines darin und ließ sich nicht vertreiben. Immerhin ließ dieses endlich den Pinsel sinken und ahmte nun brav Lisas Bewegungen nach.

„Faszinierend!“, murmelte Lisa baff.

„Geht’s noch?“, fauchte ich erbost. „Du bist kindischer als ein Dreijähriger! Mach, dass du verschwindest. Lass mich endlich in Ruhe! Was willst du eigentlich?“

Malen, malen, malen!, brabbelte die Spiegel-Kim abermals. Mehr schien dieses eingeschränkte Abbild meiner Selbst nicht drauf zu haben.

„Hau ab!“, maulte ich ungehalten.

Au ab!, äffte ich mich nach. Au ab!

„Boah, ich krieg gleich nen Föhn. Mach, dass du Land gewinnst, du verblendetes Scheiß-Ding. Hau ab, bevor ich etwas nach dir werfe!“ Ich blickte mir in die Augen und raufte mir dabei die Haare. Uff, das konnte die Spiegelbild-Kim fast noch überzeugender als ich.

Au ab! Au ab!, wiederholte das Spiegelbild und führte sich wild auf.

„Sag bloß, ich verhalte mich auch so affig! Nie im Leben!“

Lisa traute sich nichts zu sagen. „Nun ja …“, setzte sie unsicher an, „eigentlich …“

„Sei lieber still. Ich glaube, ich will das im Moment gar nicht wissen. Erst einmal muss ich mich endlich loswerden. So eine nervenaufreibende Knalltüte kann ich mir nicht länger anschauen. Da wird man ja bekloppt.“

Kloppt, kloppt, kloppt!, plapperte ich mir heiser nach.

„Halt die Klappe!“, kreischte ich. Ich ertrug es nicht mehr, diese Fratze zu sehen. Nie im Leben sah ich so aus. Wutentbrannt griff ich nach dem Föhn und hielt ihn drohend wie eine Pistole vor mich. „Wenn du nicht verschwindest, drücke ich ab, das schwöre ich dir. So wahr ich die echte Kim bin!“

Abdrücken, abdrücken!, röchelte mein Spiegelbild belustigt. Es schien mir selbst nicht zu glauben, doch da hatte es sich gewaltig getäuscht.

„Ha, du denkst wohl, ich meine es nicht ernst?“ Mit diesen Worten drückte ich den Ein-Knopf und das Gebläse ging an.

„Und das bringt was genau?“, wollte Lisa wissen.

„Ich will es lieber nicht herausfinden!“, schrie ich und zückte einen Handspiegel. „Los, geh hier hinein und lass mich in Ruhe! Ich wette mit dir, du schaffst das nicht!“

Zu meinem Erstaunen gehorchte ich mir und augenblicklich verließ die Spiegelbild-Kim den Badspiegel und grinste mich im Handspiegel frech an. Der älteste Trick aller Zeiten hatte tatsächlich geklappt. Ich hatte mich überlistet. Verrückt!

Ohne lange zu zögern, zerschmetterte ich den Spiegel auf dem Boden. Scheppernd zerbarst er und Hunderte kleine Scherben verteilten sich auf den Fließen – aus jedem blickte mich eine entsetze Kim an. Und alle schrien sie.

Als ich in den großen Bandspiegel blickte, konnte ich wieder mein altes Ich sehen. Keine Unauffälligkeiten, nichts Anormales. Ich hatte es geschafft!

Eilig fegten Lisa und ich die Scherben zusammen und entsorgten sie im Mülleimer, aus dem es noch lange schrie.

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