Visit of St. Nicholas
Kim Posse
Der historische Nikolaus darf eine Stunde in einer deiner Bücherwelten erleben. Was findet er vor und wie reagiert er?
„Schummel nicht immer!“, empörte ich mich und warf meiner WG-Mitbewohnerin Mara gefrustet die Scheine hin. „Hier, nimm doch alles! Nimm all mein Geld!“
„Kim, nun beruhige dich! Es ist nur ein Spiel!“, versuchte Lisa ihr Glück, doch auch sie konnte mich nicht beruhigen. Wieso auch? Gerade war ich voll in Fahrt und ich wollte mich einfach aufregen!
„Nur ein Spiel … pah!“, schnauzte ich und verschränkte beleidigt die Arme. „Zum dritten Mal musste ich Miete zahlen, obwohl ich in so ein beschissenes Hotel nie gehen würde! Schlossallee – pff!“ Abfällig wandte ich mich ab.
„Wer wollte denn unbedingt als Erstes die Badstraße kaufen und hat sich daran verschuldet, du oder ich?“, machte mir Mara klar.
„Mrr, lass mich!“, murrte ich beleidigt. „Ich hasse Monopoly. Das ist ein mega blödes Spiel. Unendlich blöd. Der größte Shit, wie meine Grandma sagen würde.“
„Es ist noch immer nur ein Spiel“, meinte Lisa.
Doch ehe ich mich wieder darüber aufregen konnte, klingelte es an der Haustüre. Genervt sprang ich auf und stapfte in den Gang.
„Lass deinen Frust aber nicht an dem Besucher aus!“, mahnte mich Mara, da sie genau zu wissen glaubte, wie ich nun reagierte. Dabei sprang ich nie so schlimm mit Besuchern um.
Wieder klingelte es.
„Ich bin schon da!“, schnauzte ich zähneknirschend. Schwungvoll riss ich die Tür auf und blicke erschrocken in ein Bärtiges Gesicht.
„Guten Abend, junges Fräulein, warst du schön artig? Dann will ich dich reich mit Nüsslein und anderen Leckereien belohnen.“
„Was soll denn dieser bekloppte Kinderkram? Ob ich brav war? Natürlich! Zumindest so lange, bis wir Monopoly gespielt haben. Aktuell würde ich am liebsten die ganze Welt in eine Apokalypse treiben!“
Dem Bärtigen stürzte regelrecht das Gesicht ab, was ich sogar unter seinem dichten Haar deutlich erkennen konnte.
„Was guckst du so entsetzt, du wolltest doch wissen, ob ich brav gewesen bin. Die Antwort lautet Ja, bis eben auf diesen Monopoly-Abend, nachdem ich …“
„… die ganze Welt in eine Apokalypse treiben will. Ja, ja. Kim, krieg dich mal wieder ein, hörst du? Du bist vollkommen übergeschnappt.“ Mara und Lisa kamen aufgebracht auf mich zu. „So kannst du nicht mit diesem Gast umspringen. Er hat dir nichts getan.“
„Wer ist dieser Wicht überhaupt?“, wollte ich wissen. „Von der Drogenberatung wohl kaum, obwohl das eine hinterlistige List sein kann, wie er mich ausfragt, um an ein Geständnis zu kommen. Ich habe alles durchschaut!“, gab ich stolz zu.
„Du hast eben gar nichts durchschaut!“, klagte Mara und guckte mehr als verzweifelt. „Dieser Wicht, wie du ihn nennst, ist der Nikolaus. Er …“
„… zieht von Tür zu Tür, von Haus zu Haus, guten Tag“, sang der Mann plötzlich.
„Hä?“ Verständnislos guckte ich ihn an. „Was bist du denn für einer?“
„Guten Tag, ich bin der Nikolaus“, sang er erneut.
„Und ich bin die Kim!“, gab ich gereizt singend zurück. „Kann sich der Nikolaus auch ausweisen? Die Kim kann das nämlich!“
„Kim, jetzt schalte mal wieder einen Gang zurück!“, drohte mir Mara.
„Ich bin der Heilige Nikolaus und bringe allen artigen Kindern Geschenke. Man nennt mich Anwalt der Armen und Rechtlosen. Stets an meiner Seite habe ich meinen getreuen Knecht Ruprecht. Er trägt eine Rute bei sich, um die Unartigen und Frechen zu bestrafen.“
„Ich sehe niemanden“, bemerkte ich spitz.
„Dein Glück. Du wärst sicher eine der Kandidaten, der als Erstes bestraft wird, so unverschämt, wie du dich hier aufführst!“, meinte Lisa.
„Ich, Nikolaus von Myra, komme immer am 6. Dezember und befülle die Schuhe und Strümpfe der artigen Kinder.“
„Ich habe keine Socken hinausgehängt“, meinte ich.
„So, wie du dich hier aufführst, hättest du wohl auch nichts bekommen. Dein Glück, dass ich Knecht Ruprecht nicht dabei habe. Er hätte dich in seinem Sack mitgenommen und bestraft“, meinte der Nikolaus. „Aber ich will ja nicht so sein. Du bekommst dennoch von mir eine Kleinigkeit. Gute Taten hast du schließlich vollbracht. Auf meiner Liste kann ich zum Beispiel lesen, dass du einmal einen Kater von einer vielbefahrenen Straße gerettet hast. Auch, dass du einen anfänglichen Diebstahl in eine gute Tat umgewandelt hast, finde ich bemerkenswert.“
Oh ja, daran konnte ich mich noch gut erinnern. Den Kater, den ich von der Straße geholt habe. Und auch das Fahrrad, das ich nur ausleihen wollte und dann für eine ältere Frau noch auf dem Markt war – sie hatte mir schließlich gedroht, mich anzuzeigen.
Nikolaus reichte mir ein kleines Beutelchen, das nach Zimt und Weihnacht roch. Darin fand ich ein paar Walnüsse und eine Mandarine. Mara und Lisa bekamen ebenfalls einen etwas größeren Beutel überreicht. Klar, sie waren schließlich artig – im Moment. Es gab genug Situationen, in denen ich ihnen nicht einmal ein Zuckerkorn gegönnt hätte.
„Hab Dank, lieber Nikolaus“, freute ich Mara und strahlte übers ganze Gesicht. Auch Lisa lächelte glücklich.
„Sehr schön, willst du dann auch wieder gehen oder hast du vor, Wurzeln zu schlagen“, wandte ich mich an den bärtigen Geschenkebringer.
„Ich merke, du willst mich loswerden.“
„Ich meine ja nur. Du hast sicher noch viele Besuche vor dir. Da hast du die Zeit nicht, …“
„Wie wahr“, stimmte der Nikolaus zu.
„… nur einer Person so auf die Nerven zu gehen“, beendete ich den Satz.
Damit hatte der Nikolaus wohl nicht gerechnet.
„Kim!“, stieß Lisa erschrocken aus. Beschämt blickte sie den Bärtigen an.
„Schon gut, Monopoly ist eben ein Spiel, bei dem keiner gerne verliert.“ Er zwinkerte mir zu, dann wandte er sich ab und lief auf die nächste Tür zu.