Zwergelstern unterm Rotzeder
Vera Sturm
World Voice Day
Gedankenverloren schaute ich aus dem kleinen Hoffensterchen des alten Hauses meiner Oma und sah ein paar Zwergelstern dabei zu, wie sie unter der Rotzeder nach Regenwürmern pickten. Ich liebte dieses Haus und seinen gemütlichen Altbaucharme sehr. Hier am Fenster war ich auch schon damals gestanden, als mein Opa mit dem sperrigen Baumentaster die großen Tannen zurückgeschnitten hatte.
Bereits auf der Herfahrt mit dem Nachteilzug hatte ich durch das Schiebfensterchenden den Rinderdung gerochen, der mal mehr, mal weniger stark in der Luft lag.
Meine Großeltern lebten in einem idyllischen Landhaus am Alpenostrand auf dem Röschenhof. Eine große Alm lag direkt hinter ihrem Garten, auf der ich als Kind oft herumgerannt war und meinen Drachen hatte steigen lassen.
Die Nachbarin, die bereits damals schon steinalt gewesen war, saß mit ihren Urenkeln und Stiefenkelchen auf der Veranda und genoss die Sonne. Sie hatte ihre Hängematte mit zwei dicken Tauen an Festzurrösen befestigt. Die Kinder lehnten sich über die Verandabrüstung und winkten mir zu. Sie besuchten dasselbe Schulzentrum, auf das bereits meine Mutter und ich gegangen waren.
Leider gab es auch nicht so schöne Erinnerungen an dieses Gebäude. Aus der Ferne hörte ich die Glocken der Domorgel schlagen. Der örtliche Kreischorverband sang sicherlich auch wieder eines seiner langweiligen Stücke. So ein Musikerleben in den Alpen stellte ich mir mehr als öde vor. Sie traten sogar in anderen Orten auf – zuletzt in Künzelsau –, doch ich konnte diesen Chor dennoch nicht leiden.
Meine Mutter hatte eine Mussehe eingehen müssen, als sie mit mir schwanger geworden war. Wie vorhersehbar, hatte diese Ehe nicht lange gehalten. Daran erinnerten mich jedes Mal die Glockenschläge des Doms.
Es war bereits Mittag. Bald sollte das Essen auf dem Tisch stehen. Meine Oma hatte die ganze Familie zum Essen eingeladen. Es sollte Brathering, Schweinelende, köstliche Klöße und Polentataler geben. Wie so oft trank Opa einen Kirschwein. Zum Nachtisch einen leckeren Schokoladenkuchen aus Rohrohrzucker und Kakao.
Seit meine Oma in Altersteilzeit arbeitete, hatte sie viel mehr Zeit, sich um die Familie und den Garten zu kümmern, was ihr sehr wichtig war. So gehörten nicht mehr nur Aktenberge, sondern auch Blumentopferde zu ihren täglichen Beschäftigungen. Zwar konnte sie gut backen, doch die Brotherstellung gelang ihr noch immer nicht, wie sie es sich vorstellte.
Häufig beklagte sie sich über die viel zu teuren Discounterpreise, die sie nicht mehr aus ihrer Barkasse zahlen könne. Dafür gab sie ihr Geld ganz wo anders aus …
Seit Kurzem schaute Opa die „Marschroniken“, eine Serie über Außerirdische und überdimensionale Urinsekten in den Alpen. In einer Gastrolle war sogar einmal der Bürgermeister vorgekommen, weshalb diese Serie hier die größte Einschaltquoten erzielte. Die Fankreise waren riesig. Eigens dafür hatte sich Opa eine Ministereoanlage zugelegt, um einen perfekten Sound zu haben. Er wollte die Raumschiffe ganz genau hören, wenn sie sich näherten.
Oma war das alles egal. Ihr war das Haus wichtiger. Für den Reimport antiker Möbel hatte sie bereits ein Vermögen ausgegeben. Der eigens dafür angestellten Raumausstatter zählte für sie bereits jetzt schon fast zur Familie, obwohl er ihr den Geldbeutel schneller entleerte, als sie schauen konnte. Für eine Duschlampe hatte sie einen halben Monatslohn ausgegeben. Für den Gastraum hatte sie einen uralten Holzschrank ergattert. Der Barankauf war alles andere als glimpflich verlaufen. Die Beinhaltung der Versendung war fast teurer als der Schrank selbst gewesen.
Da ihre Augen bereits sehr schlecht waren, hatte sie sich sogar zu einem viel zu großen Flutscheinwerfer überreden lassen, der den gesamten Vorhof erleuchtete. Drei Tage hatte der Montagedienst für die Montage benötigt.
Der Raumausstatter genoss die Gastrolle sehr. Er verdiente leichtes Geld, schwatzte Oma alles mögliche auf und sie schob ihm ihr Geld in die Tasche. Seine Teilerfolge waren enorm. Zwar gab er es nicht zu, doch sein gehässiges Grinsen verriet es zweifellos. Zuletzt hatte er ihr ein fürchterlich stinkendes Ohrengel aufgeschwatzt, das absolut nichts brachte. Es fehlte nur noch, dass er ein Gliedersatz vorschlug, doch ich traute ihm wirklich alles zu.
Diesem Scharlatan nun gegenüberzusitzen, war eine unvorstellbare Geduldsprobe. Ich vermied nach Möglichkeit jeden Blickkontakt.
„Habt ihr das mitbekommen“, ergriff er auch noch das Wort, was es mir unmöglich machte, ihn zu ignorieren.
„Nein, was?“ Oma hingegen hing direkt an seinen Lippen.
„In meinem Heimatort Kupferdreh soll eine Pipeline gebaut werden.“
„Freut mich für dich!“, ging ich direkt dazwischen, bevor er noch vorschlagen konnte, solch ein Umwelt verschandelndes Ding hier in die Alpen zu betonieren.
„Die Profilachse hat ergeben, dass hier ebenfalls ein perfekter Standpunkt für eine Pipeline wäre.“
„Kommt überhaupt nicht infrage!“, maulte Opa. „Hier kommt weder Gas noch eine Pipeline hin!“ Er hatte es deutsch ausgesprochen, was so wie ein Mädchennamen klang. Fast hätte ich lachen müssen. „Wir heizen mit Öl! Mehr brauchen wir nicht! Wir haben einen großen See mit Staubecken, der alles bereits bis zum Talgrund verschandelt. Noch so ein tolles Modernisierungsprojekt lasse ich auf keinen Fall zu. Das hat hier absolut nichts zu suchen!“
Daran erinnerte ich mich gut. Damals waren viele Streikende bis zum auf Streikende die Straße gegangen – überwiegend Landwirte, die die Zufahrtsstraßen für die großen Baumaschinen mit ihren Traktoren versperrt hatten. Leider hatte es nicht funktioniert. Wie ein Hinsterbender hatte sich Opa sogar auf die Straße geworfen und einen Herzinfarkt vorgetäuscht, doch nicht einmal das hatte geholfen. Die Bauarbeiter hatten dennoch skrupellos die biotische Landschaft zerstört. Alles zum Wohle des Dorfes, wie sie ihren Auftraggeber zitiert hatten. Noch am selben Abend hatten sie mit der Strahlentrostung der alten Absperrung begonnen und einen meterlangen Bauzaun aufgestellt.
Im See war noch ein Stockentenerpel geschwommen, der gackernd davongeflogen war. Obwohl der damalige Bürgermeister weitestgehend Tatunbeteiligt gewesen war, wusste er über diesen Tathergang genaustens Bescheid, dennoch hatte er nichts unternommen.