Multiversemontag
- Niklas Böhringer

- 17. Sept. 2023
- 8 Min. Lesezeit
Aktualisiert: 2. Dez. 2024
Die Inspiration für die Geschichten zum #multiversemontag entspringt den Bildern verschiedener Künstler. Jede Woche wählt ein anderer Autor ein Bild aus dem Repertoire eines Künstlers von instagram aus, dessen Bild die dieswöchige Vorlage wird.
Eissee
Ein gewaltiger, zugefrorener See erstreckte sich vor mir. Die dicke Eisdecke knackte bedrohlich, als ich sie vorsichtig betrat. Im Zentrum des Sees ragte ein gewaltiger Baum in die Höhe, der anstatt einem Baumhaus einen gigantischen Eisblock beherbergte. Wie übergroße Reißzähne zierten Hunderte Eiszapfen diesen Giganten. Doch was mich am meisten erstaunte: Trotz der klirrenden Kälte trieb der Baum kleine, rosafarbene Blüten, die er stolz präsentierte. Zwar waren diese eingefroren, dafür umso schöner. Aber vielleicht war diese Blütenpracht ja gerade nur deshalb möglich, weil hier alles erstarrt war? Als ob der Winter unerwartet zurückgekehrt wäre und den Frühling überrascht hätte.
Bild: @millisworlds
Meeresklippe
Gigantische Wellen brachen wie tobende Riesen grollend über die Felsen, die wie Speere in die von Feuer erhellte Nacht ragten. Die knorrigen Bäume, die schon lange kein Leben mehr in sich trugen, hielten diesen Wassermassen problemlos Stand. Durch nichts ließen sie sich einschüchtern. Auf dem obersten Gipfel des größten Felsen machte ich eine Silhouette aus, die all dem Getose trotzte. Sie schien sogar die Kontrolle darüber zu haben, denn in ihrer rechten Hand befand sich ein langer Stab, den sie wie einen Zauberstab in die Höhe reckte. Unerschrocken und unzerstörbar, als habe sie diese gigantische Naturgewalt unter ihrer Kontrolle.
Bild: @chriscold.art
Gondoliere
Stumm lag der endlose Kanal vor uns. Die Gondel glitt flüsternd darüber hinweg. Das Wasser unter uns war tiefschwarz und schien alles zu verschlucken. Lediglich der schwache Schein der Öllampen, die am Bug verteut waren, gewährten mir einen kleinen Sichtbereich, hinter dem alles andere durch die Nacht verborgen war. Ein feuchter, kühler Windstoß ließ die Gondel kurz schaukeln, als sei die eine Feder. Mühelos spielte der Wind damit. Der Gondoliere ließ sich nicht aus der Ruhe bringen. Fast regungslos stand er an der Spitze und leitete unsere Gondel durch die Nacht, als hätte er nie etwas anderes getan.
Bild: @alexson12
Ga‘Hoole
Sorgsam wählte ich jeden Schritt, den ich setzte. Immer prüfend, ob der Untergrund nicht rutschte, tastete ich mich im Schneckentempo voran. Lange, Algen ähnliche Blätter übersäten den gewaltigen Stamm. Es knackte mehrfach, als würde ich jeden Moment in die Tiefe stürzen, doch es hielt. Mein Herz schlug mir bis zum Hals. In weiter Entfernung erblickte ich den Schatten einer gigantischen Eule, deren Flügel sich scheinbar über den gesamten Himmel erstreckten. Ga'Hoole, das Reich der Eulen, war nicht mehr weit. Es war so gut verborgen, dass es in keiner Landkarte der Welt verzeichnet war, um diesen magischen und sagenumwobenen Ort zu schützen. Auf einem lange verschollenen Schriftstück hatte ich diesen magischen Ort entdeckt. Nun war ich auf dem Weg, um ihn zu erkunden.
Bild: @anatofinnstark
Fenster
Wie die Strahlen der Sonne offenbarte sich mir das gigantische Fenster in matten Rottönen. Hinter mir lag die Finsternis, die mir den schmalen Weg gefolgt war. Die kalten Stalagmiten standen verloren da, sie säßen fest – seit Jahrtausenden. Tief in einer Höhle verborgen, abgeschottet von der Außenwelt. Kein Lebewesen war hier unten anzutreffen, obwohl das satte Rot der eisigen Kälte mit sanfter Wärme entgegenkam. Alles war vereist und verlassen, nur das Fenster leuchtete als Wegweiser, als wolle es eine bessere Zukunft versprechen, wenn man ihm nur folgte: Wärme, Geborgenheit und ein Leben Sicherheit. In eine ganz andere Welt, als diese herzlose, eisige und zu Grunde gehende Einöde, die hinter mir lag. Das rote Fenster war der Beginn eines Neuanfangs, den ich nur noch betreten musste …
Bild: @anatofinnstark
Ruinenflüstern
Nur noch eine verfallene Ruine. Alte Gemäuer, die von einer längst vergangenen Zeit berichten. Seit Jahrtausenden streift der Wind durch die fensterlosen Löcher und erzählt heulend seine Geschichte. Erinnert daran, was damals geschehen ist. Nur er hat alles gesehen, niemand sonst vermag sich daran zu entsinnen. Nicht einmal die ältesten Aufzeichnungen beinhalten das Wissen, das der Wind erzählt und immer Neues erlebt. Jeden Tag, seit Tausenden Jahren. Immer und überall. Seine Ohren hat er überall, mit seinen eisigen Fingern ist er allgegenwärtig. Niemand kann sich seinem Blick entziehen. Was er einmal gesehen, wird er nie vergessen – davon wird er berichten und eine neue Geschichte erzählen. Eine neue Legende, die viele Generationen weitergegeben wird. Denn in jeder Legende steckt ein Fünkchen Wahrheit.
Bild: @calder_moore
Drachensanftmut
Drachen? Wer glaubte heutzutage noch an Drachen? Die Existenz von Dinosauriern ist bewiesen, sie soll es gegeben haben. Aber Drachen? Nein, das war einfach unmöglich! Was da jedoch direkt vor mir seine gigantischen Flügel über den Himmel ausbreitete, was einer. Daran gab es keinen Zweifel. Die Bäume sahen mickrig gegen ihn aus. Nicht einmal an seinen Bauch reichten sie. Seine grünen Schuppen tarnen ihn gut im Wald, doch wer so weit hinausragte, konnte sich auch mit der besten Tarnung nicht unsichtbar machen. Sein Kopf schillerte golden im Licht der abendlichen Sonne, die tief stand und mit ihren letzten strahlen noch die Anwesenheit dieses Fabelwesens beweisen wollte. Drachen, die größeren Lebewesen, die unser Planet je hervorgebracht hatte; die edelsten und anmutigsten Lebewesen, die es gab. Wieso, so fragte ich mich, gab es so viele Geschichten, die das Gegenteil behaupteten? War es die menschliche Gier und Ahnungslosigkeit, die ihn dazu veranlasste? Der Mensch würde nie an diese Anmut heranreichen, ganz egal, was er auch versuchte.
Bild: @anatofinnstark
Gewächshaus
„Spürst du die Magie dieses Ortes?“, wollte sie wissen. Andächtig blickte sie sich um. Ihr langes lilablaues Kleid aus feinster Seide schleifte auf dem Boden.
Auch er blickte sich ehrfürchtig um. Der Ort schien seit Jahrhunderten verlassen, dennoch brannten auf dem kleinen Tisch zwei Kerzen und das leckere Essen auf den Tellern sah aus, als sei es vor wenigen Minuten erst serviert worden. Was war das für ein Ort?
Sanfter Wind wiegte ihre Haare. Da wurde der Raum plötzlich erhellt. Strahlend helle Lampions zieren einen Baum, dessen Zweige wie die einer Trauerweide tief auf den Boden hingen. Sie schienen zu flüstern, als der Wind sanft mit ihnen spielte.
Im schummrigen Licht konnte das Paar den Nachthimmel sehen. Jedoch trennte sie ein gewaltiges Glasdach von den Weiten des Himmels und den Sternen. Sie befanden sich im größten Gewächshaus, das sie je gesehen hatten.
„Wo sind wir hier?“, wunderte er sich. Er erkannte zweifellos die Magie, die diesen Ort umgab, doch woher sie kam, konnte er beim besten Willen nicht deuten – so sehr er sich auch bemühte.
„Das klingt vielleicht verrückt, aber vielleicht sollten wir etwas essen.“ Sie deutete auf den reichlich gedeckten Tisch. „Das Essen soll nicht verderben.“
So nahmen die beiden Platz. Und wie sie den ersten Bissen aßen, tauchten am Baum zwei neue Lampions auf, die heller als alle anderen leuchteten. Das Paar hatte sich zur selben Sekunde in Luft aufgelöst …
Bild: @panjooolart
Feuersbrunst
Sie rannte um ihr Leben. Panisch vor Angst hatte sie ihre Augen aufgerissen. Dicht hinter sich spürte sie die gleisende Hitze des Drachenfeuers.
Das gewaltige Monster wütete seit Tagen und zerstörte alles, was sich ihm in den Weg stellte. Seine Flammen verschlagen rücksichtslos alles.
„Lauf, lauf“, brüllte ihr Arturo, ein langjähriger Freund entgegen, um die Geräusche zu übertönen. Ihr Gehör war fein genug, um ihn bestens zu verstehen.
Sie rannte, so schnell sie ihre Beine nur tragen konnten. Arturo klammerte sich fest an sie.
Kurz bevor sie das Tor erreicht hatten, erkannte er noch ein Mädchen von schwächlicher Gestalt. Es konnte sich kaum mehr auf den Beinen halten.
Sie steuerte direkt auf es zu und als die Stute an dem verängstigten Mädchen vorbei ritt, schlang Arturo seinen Arm um es und zog es zu sich in den Sattel.
Er gab dem Tier die Sporen, das mit seinen beiden Reitern davonjagte.
Bild: @kalmahul
Statuenwiderstand
Die Welt lag in Trümmern. Um uns glomm die Asche unentwegt weiter. Einfach zu stören reichte ihr nicht. Unaufhaltsam wütete das Feuer. Es kletterte rasch auf den antiken Dachtuhl des Gebäudes, der in Sekundenschnelle lichterloh in Flammen stand. Kurz darauf brach krachend das brennende Gebälk in sich zusammen und hinterließ Spuren der Verwüstung. Die maroden Balken hielten der Hitze nicht lange stand und wurden selbst bald zu Zunder, der die Flammen näherte.
Und in all dem Chaos stand die steinerne Statue, trotzte dem Feuer, der Hitze, der Zerstörung. Als könne es ihr nichts anhaben. Selbst der Stein, aus dem sie vor Hunderten Jahren befreit worden war, war noch kühl und makellos. All die Jahrhunderte – und so wird sie auch noch weitere Jahrhunderte stehen, jedem Unheil und jeder Katastrophe trotzen, während um sie herum die Welt in sich zerbricht und in Trümmern liegt. Machtlos den Gewalten der Natur ausgesetzt. Nur die Statue steht inmitten der Zerstörung – unberührt und makellos.
Bild: @maxime_delcambre
Zukunftsstadt
Ich öffnete die Augen und da lag sie vor mir. Die Stadt der Zukunft. Noch nie zuvor hatte ich solch eine Stadt zu sehen bekommen. Jedes Gebäude stand auf einem Plateau, umgeben von Wasser. Nur kleine Stege verbanden die vielen Landfleckchen miteinander. Zweifellos war dies eine Stadt, die über die neusten Standards verfügte und gleichzeitig schien sie ein Relikt aus alten Zeiten zu sei – antik, denn das Wasser wurde noch immer mit Aquädukten transportiert. Die Gebäude selbst waren mit der neusten Technik gebaut worden, das sah ich sofort: Mehrere hundert Meter hoch, fensterlos, makellos. Diese moderne Wasserstadt war faszinierend und grotesk zugleich. Wie konnte es wirklich möglich sein, dass es bereits in 21. Jahrhundert solche Städte gab?
Bild: @maxime_delcambre
Düsterwald
Einfach weg! Ganz egal, wohin. In großer Eile hatte ich das Nötigste zusammengepackt und war überstürzt aufgebrochen. Nicht einmal eine Nachricht hatte ich hinterlassen. Mein Ziel kannte ich ja selbst nicht. Der knatternde Motor schien mir von meinem bevorstehenden Abenteuer zu berichten. Ich fuhr einfach, einfach weg, weit weg. Niemand sollte wissen, wohin ich verschwand, niemand sollte mir folgen. Ich wollte niemanden mehr sehen. Mein Ziel lag im Ungewissen, in der Fremde. Und genau darauf steuerte ich gerade zu.
Bild: @stefankoidl
Naturpfad
Ein langer Weg lag vor mir. Unberührt, naturbelassen. Umgeben von Wasser und Wäldern. Die Luft war feucht und kühl. Als ich die kühlen Steine unter meinen Füßen spürte, fühlte ich mich mit dem Boden verbunden – als wäre ich eins mit der Natur. In einiger Entfernung erspähte ich einen wunderschönen Schimmel, dessen Mähne im Wind wehte. Sein Schweif schlug hin und her, als wollte er mir zuwinken. Es war einfach perfekt! Die Natur, sie lag vor mir … und ich durfte ein Teil von ihr sein.
Bild: @is.nino
Zeit
Gefangen – im ewigen Zyklus der Zeit, dem niemand zu entkommen vermag. Wir alle erleiden dasselbe Schicksal. Für uns alle gibt es eine erste Sekunde, für uns alle einen letzten Glockenschlag. Die Sanduhr des Lebens rinnt unaufhaltsam, die Zeiger des Lebens schreiten voran. In düsteren Nachtstunden wie an hellen Stunden des Tages – unsere Uhr tickt im Gleichtakt und verlässt diesen Rhythmus nie. Anfangs ist das Uhrwerk noch geschmeidig und glänzend, mit den Jahren hinterlässt es seine Spuren; musste nachgestellt werden, bekam Ersatzteile – und dennoch läuft sie weiter. Manche Stunden sind einsam, manche schrill, doch alle gehen vorüber und werden Teil unserer Erinnerung, Teil unseres Lebens. Tick, tick, tick. Immer weiter, bis sie stehen bleibt und verstummt – für immer.
Bild: @lindajanke_art
Wächter des Waldes
Gedankenverloren blickte er auf den See. Die Angelrute ausgeworfen, konnte er nur abwarten. Rings um ihn standen die ersten Krokusse und zierten die sumpfige Wiese, die das Gehen erschwerte. Er genoss die Einsamkeit. Oft kam er hierher – alleine. Allerdings hatte er all die Jahre nicht geahnt, dass nicht er der Jäger war, der wartete, bis die Fische anbissen. Nein, er war die Beute. Schon seit Jahren. Und er wusste es nicht einmal. Der Wächter des Waldes, ein eigentlich sanftmütiges Wesen, getarnt in den Farben der Natur, lauerte. Er wartete nur darauf – auf eine geeignete Gelegenheit, um zuzuschlagen. Wer es wagte, in seinem Reich Tiere zu entführen, seien sie noch so klein, so erwartete diese Schänder dasselbe Schicksal. Wer es wagte, ein unschuldiges Tier zu verletzten, gar zu töten, sollte selbst leiden. Auch, wenn es für uns Menschen leichtfertig als Angeln abgetan wird, so müssen dennoch Tiere leiden. Unermessliche Schmerzen, die der Wächter des Waldes nicht dulden kann. Er schützt seine Bewohner – jeden von ihnen. Gerade als die Rute zu wackeln begann und der Mann seinen Fang einholen wollte, wurde er selbst zu Beute.
Bild: @deniszhbankov



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