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Kurz und phantastisch

Aktualisiert: 2. Juli 2023

Die liebe @esther_s_schmidt hat auf Instagram den Hashtag #kurz_und_phantastisch ins Leben gerufen und gemeinsam mit einigen Autoren Ideen gesammelt für eine neue Kurzgeschichten-Reihe, die jeden Montag veröffentlicht wird. Unter dem Hashtag #kurz_und_phantastisch kann jeder mitmachen und eine Geschichte zur vorgegebenen Aufgabe schreiben.

Hier habe ich euch all meine Geschichten gesammelt eingestellt. Ihr könnt sie auch auf meinem Instagram-Account direkt lesen: auf Instagram lesen.


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Heinzel-Diebe

Die Riemen des Rucksacks schnitten sich tief in meine Schultern. Der Berg schien stetig zu wachsen und ich hatte das Gefühl, nicht einen Meter dem Gipfel näherzukommen.

Die Sonne brannte heiß und ich brauchte dringend eine Pause. Daher suchte ich nach einem schattigen Plätzchen und ließ mich erschöpft nieder. Die Wasserflasche leerte ich fast in einem Zug. Erschöpft schloss ich die Augen und genoss die kurze Pause, um neue Kräfte zu sammeln.

Ein leises Kichern ließ mich herumfahren. Hatte ich mich nur getäuscht oder wollte mir jemand einen Streich spielen?

„Hallo?“, rief ich, doch niemand antwortete. Erneut blickte ich mich eingehend um, doch niemand schien auf diesem Berg zu sein. Gerade wollte ich meine Augen schließen, als ich das Kichern erneut wahrnahm. Diesmal deutlicher!

Hier war jemand!

In einiger Entfernung raschelten die Gräser. Eindeutig hatte ich zwei kleine Köpfe gesehen.

„He, ich habe euch gesehen!“, rief ich und hoffte, dass die beiden Gestalten sich zeigen würden, doch nichts geschah. Bis auf das Kichern war nichts zu vernehmen. Waren das Kinder? Wenn ja, wo waren ihre Eltern? Ich rappelte mich auf und lief ein paar Schritte im Kreis, um Ausschau zu halten.

Nichts. Weder die Eltern noch die Kinder selbst waren zu sehen. Der Berg war menschenleer.

In diesem Moment traf mich ein kleiner Stock am Kopf. Erschrocken fuhr ich herum.

„Au!“, empörte ich mich. „Wer hat mich damit abgewor­fen?“ Doch wie ich schon erwartet hatte, zeigte sich niemand. Stattdessen hörte ich, wie die Reißverschlüsse meines Rucksacks surrend aufgezogen wurden und sämtliche Verpackungen raschelnd entwendet wurden.

„He!“, rief ich und rannte eilig zu meinem Rastplatz zurück. Da sah ich sie: drei kleine Männlein. „Zwerge!“, stieß ich erschrocken aus. Gab es sie etwa doch?

„Zwerge?“ Einer der Kleinen sah mich an und kicherte frech. „Wir sind keine Zwerge. Wir sind Heinzelmänner, du Glühwurm!“

„A-aber ihr tragt doch auch Zipfelmützen“, wunderte ich mich.

„Und? Dann sind wir gleich alle Zwerge, weil wir Zipfelmützen tragen? Du bist doch auch kein Storch, nur weil du zwei lange und dünne Beine hast“, beschwerte sich eines der Männchen. Auf seinem Kopf trug er eine spitze Mütze, die jedoch nicht auf Fließ gefertigt war, sondern aus trockenen Gräsern geflochten war. Mit meinen Vorräten in den Armen und seinem rundlichen Gesicht wirkte er wie ein Kind, das am Plündern des Kühlschranks ertappt worden war. Bloß, dass ich hier selbst diese Vorräte mehr als dringen benötigte.

„Was habt ihr mit meinen Vorräten vor?“, wollte ich wissen.

„Noch so eine intelligente Frage. Seid ihr Menschen alle so? Damit einreiben werden wir uns jedenfalls nicht. Aber wir sind schließlich Fabelwesen, daher will ich dir eine Chance geben: Du hast drei Versuche.“

„Drei Versuche“, lachte ich. Mir war klar, dass sie es essen wollten. Aber so viel? „Ich sage es dir beim ersten.“

„Na, da bin ich aber gespannt.“ Das Heinzelmännchen spitzte seine Ohren und legte den Kopf schief. Würden sie mich nicht gerade ausrauben, hätte es nichts Schöneres für mich geben können, mit eigenen Augen diese knuffigen Kerlchen zu sehen zu bekommen.

„Ihr wollt es essen.“

„Exakt. Dein Hirn besteht doch nicht nur aus Butterblumen und Wolken“, meinte das Männchen.

„Und ich dachte, alle Menschen seien steindumm, so wie sie hier herumtrampeln und ihren Müll einfach fallen lassen. Nicht mal das Essen, nur ihren Müll!“, beschwerte sich sein Kamerad.

Die Ausdrucksweise der Heinzelmännchen gefiel mir gut. Auch musste ich ihnen leider recht geben, denn zu viele Menschen werfen achtlos ihren Müll in die Natur und kümmern sich nicht mehr darum.

„Wisst ihr was“, schlug ich vor, „wenn ihr ein paar Lebensmittel mitnehmt, stört mich das nicht, aber ich brauche selbst noch etwas zu essen.“

Zu meiner Verblüffung nickten die Männlein einstimmig und legten ihre Beute in den Rucksack zurück. Dann griffen sie erneut hinein und jeder von ihnen nahm sich genau eine Sache heraus. Sie grinsten dabei, denn es kam nur selten vor, dass ein Mensch sie überhaupt entdeckte. Und noch seltener, dass er mit ihnen sprach und auch noch freiwillig sein Essen mit ihnen teilte und nicht nur den Müll hinterließ.

„Danke, Duda“, riefen sie im Chor und verschwanden rasch im hohen Gras, wo ich sie kichern hörte, das langsam leiser wurde.

Duda? Hieß ich für sie so? Was für ein lustiger Name. Dass ich gerade wahrhaftig Heinzelmännchen getroffen hatte und sogar mit ihnen sprechen konnte, das war das großartigste Erlebnis, das ich mir nur vorstellen konnte. Keine Wanderung hatte so eine tolle Überraschung bereitgehalten. Zur Sicherheit, dass es kein Traum war, kniff ich mich selbst in den Arm, doch zum Glück tat es weh. Es ist also tatsächlich geschehen!

Ich packte meine Sachen zusammen und legte noch einige Kekse auf einen Stein (ohne Verpackung natürlich!), ehe ich weiterlief.

Feuerfunkenfinger

Das Brennen war unerträglich. Wie Feuer in meinen Adern brannte das Blut. Mir war heiß. Was war bloß los mit mir? Wie besessen kratzte ich mich, denn von jetzt auf nachher hatte meine Haut zu jucken begonnen. Ich wusste weder, was es ausgelöst hatte, noch wie ich es wieder beenden konnte. Aus dem Jucken wurde ein Schmerz, der meinen ganzen Körper durchzuckte. Es brannte, es juckte, es schmerzte. Meine Hände taten höllisch weh. Fast so, als hätte ich auf eine heiße Herdplatte gefasst. Doch was dann geschah, überstieg vollends meinen Verstand. Aus meinen Fingerspitzen schossen Funken. Erst ganz kleine, dann wie bei einem Sternenregen an Silvester. Es brannte unerträglich. Wie … wie war es möglich, dass meine Finger Funken sprühten?

Vor Schmerz schrie ich auf, doch ich wusste nicht, was mit mir geschah.

„Hilfe!“, brüllte ich aus aller Leibeskraft, doch niemand war in der Nähe, der mich hätte hören können. So versuchte ich selbst, Ruhe zu bewahren und hielt Ausschau nach einem See oder einer anderen Wasserquelle, an der ich mich etwas abkühlen konnte.

Zum Glück fand ich kurz darauf tatsächlich einen See, zu dem ich nun hinstürmte. Zischend tauchten meine glühenden Finger hinein und der Schmerz verebbte im selben Augenblick. Erleichtert ließ ich mich nach hinten fallen und begutachtete meine Finger. Was das bloß ein Traum gewesen? Anders konnte ich es mir nicht erklären, doch wie genau war das passiert? Wie konnten Finger einfach zu brennen anfangen und Funken sprühen? Ich schob es auf die Hitze der Umgebung und wollte wieder heimkehren.

Den ganzen Heimweg dachte ich an die Schmerzen, die ich mir eingebildet haben musste, die sich aber so real angefühlt hatten.

Ich legte noch einen kurzen Zwischenstopp an örtlichen Einkaufscenter ein, denn ich wollte Eis und Grillsachen kaufen. Allerdings kam ich nicht weit. Kurz nachdem ich den Laden betreten hatte, stach mir wieder dieser unerträgliche Schmerz in alle Glieder und ich brach zusammen. Der kühle Boden entzog mir die Wärme etwas, doch einige Kunden waren aufmerksam geworden. Eine Dame kam mir zur Hilfe und half mir auf.

„Soll ich einen Krankenwagen verständigen?“, erkundigte sie sich, doch ich winkte ab.

„Nein, nein. Vielen Dank, aber mir fehlt nichts“, versicherte ich.

„Das sah eben ganz anders aus“, widersprach sie mir. Doch anstatt den Notruf abzusetzen, verständigte sie einen Mitarbeiter und informierte ihn über meinen Zusammenbruch. Dieser stürmte sogleich los, brachte mir ein Glas kaltes Wasser und einen Stuhl.

„Hier, setzen Sie sich. Sicher haben sie heute noch nicht genug getrunken. Bei dieser Wärme ist es sehr wichtig“, erklärte mir der besorgte Verkäufer, was ich selbst nur zu gut wusste.

„Danke.“ Ich nahm das Glas und leerte es in einem Zug. Hatte ich heute wirklich zu wenig getrunken? Möglich war es, denn darauf achtete ich nie.

Gerade, als ich wieder aufstehen wollte, durchfuhr mich dieser Schmerz erneut und ich krümmte mich aufbrüllend.

„Was ist los mit Ihnen?“ Entsetzt sprang die Kundin auf. „Mir reicht es jetzt. Ich verständige den Rettungswagen. So geht es doch nicht weiter!“

„Ich brauche keinen …“, setzte ich an, doch dann schwieg ich. Mehrere Wellen des Schmerzes durchfuhren mich, dann begannen meine Finger wieder zu flocksen und regelrecht zu glühen.

An den entgeisterten Gesichtsausdrücken der Umherstehenden konnte ich erkennen, dass es diesmal nicht nur ich bemerkt hatte.

Funken, rotglühend und hell, schossen aus meinen Fingerspitzen und fielen auf den kalten Fliesenboden, auf dem sie zischend erloschen.

„Was … wie machen Sie das?“, kreischte die Frau. Sie war einer Ohnmacht nahe. „Das gibt es doch nicht.“

Ich wollte antworten, dass ich es selbst nicht wusste, doch da wurde der Schmerz abrupt so stark, dass ich in einem lauten Aufschrei erneut zusammenbrach. Der Verkäufer konnte mich gerade noch auffangen.

Ich wollte mich an einem Regal festkrallen, damit ich ihn nicht verletzte, doch wie zu erwarten stand dies augenblicklich in Flammen. Mehrere Kunden vergrößerten rasch den Abstand und riefen laut durcheinander. Notdürftig versuchte der arme und mit dieser Situation völlig überforderte Verkäufer, die Flammen zu löschen, doch es gelang ihm nicht.

Wie ein Feuergeist breiteten sich die züngelnden Flammen aus und sprangen auf die anderen Regale über, dass bald der ganze vordere Bereich des Ladens in Flammen stand.

Mir selbst wurde schwarz vor Augen, als gerade mit heulenden Sirenen die Feuerwehr anrückte.

Spukbesuch

Die Arbeit war wieder einmal stressig gewesen. Ich war froh, endlich Feierabend zu haben. Ich freute mich auf meine Couch und auf einen schönen Film.

„Ich bin zuhause!“, rief ich in die Wohnung hinein. Ich wohnte zwar alleine mit meinem Hund zusammen, doch diesen begrüßte ich ebenfalls wie einen Menschen.

Ich füllte Micky den Trog mit Wasser, holte mir selbst ein Glas Wasser und dann setzten wir uns gemeinsam vor den Fernseher. Micky durfte bei mir immer aufs Sofa. Er guckte genau so gerne wie ich.

Doch gerade in dem Moment, als ich einen Film starten wollte, ging der Fernseher wieder aus und auch die Wandlampen erloschen. Erschrocken fuhr ich hoch. Mist, ausgerechnet jetzt Stromausfall!

Ich stand bereits vor dem Sicherungskasten mit meiner Handytaschenlampe, doch alle Sicherungen waren drin. Seltsam! Einfach zur Sicherheit knipste ich alle einmal aus und wieder an. Aber wie schon zu erwarten: es änderte sich nichts.

Plötzlich ging das Licht wieder an und zusätzlich alle anderen Geräte, die noch am Strom hingen. Das war mir noch nie untergekommen. Eilig rannte ich in die Küche, schaltete den Wasserkocher, den Herd und den Mixer aus, die alle auf Maximum liefen.

Micky, der mir jaulend folgte, sah mich mit großen Augen an. Er schien auch nicht zu wissen, was hier gerade vorging. Na super, wir schienen nun beide verängstigt zu sein.

„Eigenartig. Aber komm, Micky, wir gucken unseren Film. Der Strom läuft. Alles andere ist mir egal.“ Zusammen hockten wir uns wieder aufs Sofa.

Das Licht flackerte unerwartet, doch nicht regelmäßig, wie es schon ein paar Mal vorgekommen war. Fast so, als wären es Morsezeichen, blinkte das Licht: kurz, kurz, kurz – lang, lang, lang – kurz, kurz, kurz.

„Mist!“, stieß ich aus. „Das … Micky, das ist das SOS. Dreimal kurz, dreimal lang, dreimal kurz. Was ist hier bloß los?“ Durch Zufall hatte ich mir diesen Morsecode vor einigen Monaten eingeprägt, als ich eine Doku über den Untergang der Titanic angesehen hatte.

Micky hingegen begann zu jaulen, als sei er ein Wolf bei Vollmond. Mir lief es eiskalt den Rücken hinunter. Ich hörte ein leises Knacken und ein kühler Luftzug war deutlich zu spüren. Nein, das war doch nicht möglich! Konnte dies wahrhaftig ein Geist sein? Mir war klar, dass es eigentlich keine Geister geben durfte, doch wussten die Geister auch, dass es sie nicht gab?

„Geist, wenn du hier bist, zeige dich“, sagte ich verunsichert. Insgeheim hoffte ich, dass der Geist erscheinen würde, doch mir wäre es tausendmal lieber, wenn es nur ein Stromproblem oder ein Scherz der Nachbarn war.

Zu meinem Entsetzen schwebte nun wirklich eine durchsichtige, nebelige Gestalt auf mich zu. Ganz langsam näherte sie sich mir. Erschrocken wich ich einige Schritte zurück und stolperte zurück auf das Sofa.

„Bitte“, flehte ich, „tu mir nichts.“

„Tun?“, fragte der Geist in säuselndem Tonfall. „Wieso sollte ich dir etwas tun? Du hast mir ein schönes Zuhause gegeben. Da werde ich dir nichts tun.“

„Zuhause gegeben?“, stutzte ich. „Wieso weiß ich nichts davon?“

„Hättest du mich aufgenommen, wenn ich gefragt hätte?“

„Nein ...“

„Siehst du, darum habe ich nicht gefragt.“

„Und wie lange wohnst du schon bei mir?“, interessierte ich mich nun doch.

„Wie lange? Das ist eine schwere Frage. Zeit ist für mich schwer zu merken. Ich bin schon so lange tot, dass mir alles zeitlos vorkommt.“ Der Geist näherte sich mir ein Stück. „Nun dachte ich, ist es an der Zeit, mich vorzustellen und mich zu bedanken.“

„Okay, dann frage ich anders: Wann hast du gelebt? Das Jahr reicht mir“, meinte ich.

„Ich bin 1786 gestorben. Seitdem wandle ich als Geist auf diesem Planeten. Ich habe noch etwas zu erledigen und kann noch keine Ruhe finden.“

„Gruselig“, fand ich. Kurz atmete ich durch. Ja, es geschah gerade wirklich. Ich sprach mit einem Geist. „Weißt du ungefähr, seit wann du hier bist? Gibt es irgendein Ereignis, das dir in Erinnerung geblieben ist“

Der Geist dachte einen Moment nach, dann schien er sich zu erinnern: „Du hast deinen Hund Micky gerade bekommen. Da habe ich ein paar Tage bei dir schon gewohnt. Ich habe mich auf dem alten Speicher eingerichtet.“

„Micky? Dann wohnst du hier ja schon fast zehn Jahre!“, stieß ich erschrocken aus.

„Ach, zehn Jahre sind nichts für mich“, lachte der Geist. Für ihn waren zehn Jahre sicher wie ein Tag für mich, wenn er seit 1786 untot auf der Erde spukte. Unheimlich, dieser Gedanke. „Wirfst du mich jetzt raus?“, bangte der Geist.

„Nein, wieso sollte ich?“, entschloss ich mich. Dann fiel mir ein, was er zuvor gesagt hatte: „Was für eine Aufgabe hast du eigentlich noch zu erledigen?“

„Oh, das ist nicht einfach“, seufzte der Geist, „ich habe meine Frau im Stich gelassen. Ich muss sie wiederfinden, sonst kann ich nicht ruhen.“

„Herrje, das scheint eine schwerere Aufgabe zu sein, als ich dachte. Ist sie denn auch ein Geist?“

„Ich weiß es nicht. Aber mir reicht es auch schon, wenn ich ihr Grab finde“, berichtete der Geist.

„Das könnte sehr schwer werden.“ Von meinen Urgroßeltern wusste ich, dass Gräber nach etwa dreißig Jahren geräumt wurden. Da lag der Geist leider schon lange darüber. Doch manche Friedhöfe hatten noch uralte Gräber, die mehrere Jahrhunderte alt waren. Ich nahm mir vor, dem Geist meine Hilfe anzubieten. Gemeinsam würden wir es schaffen, seine Frau zu finden. Der Geist sollte seine verdiente Ruhe bekommen und nicht qualvoll auf der Erde wandeln müssen, auf der immerwährenden Suche nach seiner Frau, die wohl schon viele, viele Jahre nicht mehr zu finden war. Doch würde ich es schaffen? Versuchen musste ich es, wenn ich den Geist loswerden wollte!

„Ich helfe dir“, erklärte ich.

„Vielen Daaaaank“, heulte der Geist überglücklich, dann löste er sich auf und das Licht ging wieder an.

Wüstentod

Erbarmungslos brannte die glühende Sonne vom Himmel. Weit und breit nichts als dürre Einöde. Kein Wasser, kein Schatten, kein Lebewesen.

Die Schweißperlen auf meiner Stirn rannen mir übers Gesicht und verdampften noch bevor sie den Boden berühren konnten. Den letzten Tropfen hatte ich schon vor mehreren Stunden aufgebraucht.

Der Sandstaub brannte in meiner Lunge, in meinen Augen, schmeckte scheußlich in meinem Mund – wie Schmirgelpapier. Verzweifelt schleppte ich mich Schritt für Schritt weiter. Immer in der Hoffnung, doch noch einen Brunnen oder eine Quelle zu finden.

Vor mir lagen mehrere Oasen. Ein großer See, Palmen, die Schatten boten, und Kokosnüsse, die meinen unbändigen Hunger stillen konnten. Doch als ich mich näherte, zog sich der grüne Fleck ein Stück zurück und immer so fort: Ich lief vorwärts und in derselben Geschwindigkeit bewegte sich das herrliche Plätzchen von mir weg. Enttäuscht wurde mir bewusst, dass es sich um ein Hirngespinst meiner Fantasie handeln musste – eine Fata Morgana, die mein dehydriertes Ich fälschlicherweise wahrnahm.

Dennoch wollte ich nicht aufgeben. Ich schleppte mich keuchend weiter. Neben dem Sand, der in meinen Augen klebte und entsetzlich juckte, tat der Schweiß sein Übriges und verwehrte mir vollends die Sicht.

Erschöpft brach ich zusammen und spürte den heißen Sand auf meiner Haut, wie er sich langsam in mich hineinbrannte und mich zu verschlingen schien. Ich wollte mich wehren, dieser tödlichen Hitze entkommen, doch meine Kräfte waren aufgebraucht. Ich schaffte es nicht mehr, mich aufzuraffen. Mein Körper war schlapp, wog schwer in der Sonne. Wie eine schrumpelige Rosine, der all ihr Wasser entzogen worden war, fühlte ich mich. Trocken und ausgelaugt.

„Wasser“, hauchte ich, doch als der Sand in meinem Mund wie tausend Nadeln auf meiner Zunge und im Hals brannte, schloss ich ihn schnell wieder und verstummte.

Wer sollte mich schließlich hören?

Niemand!

Ich war allein!

Verloren!

Plötzlich tauchten einige Schatten über mir auf. Doch als ich mich drehte, um nach oben schauen zu können, lief es mir eiskalt den Rücken hinunter. Wenige Meter über meinem Kopf kreisten drei Geier, die nur darauf zu warten schienen, dass ich wehrlos in diese Wüste krepierte und ihnen ein willkommenes Mahl bot.

Nein! Das durfte nicht passieren! Ich wollte nicht als Geier-Futter enden. Alles, nur das nicht!

Mühsam rappelte ich mich auf und schöpfte neue Kraft. Die letzten Kraftreserven aus meinem Körper erlaubten es mir, mich auf den Beinen zu halten. Wankend lief ich weiter.

Meine Lippen waren aufgeplatzt und rissig. Wasser!, schoss es mir durch den Kopf, Ich brauche Wasser! Doch woher sollte ich hier Wasser bekommen? In einem Land, das nur aus Sand und flimmernder Luft bestand. Woher?

Suchend drehte ich mich mehrmals im Kreis, als ich unverhofft Fußspuren im Sand entdeckte. Fußspuren! Mein Herz machte einen Freudensprung. Wenn hier schon vor mir jemand gewesen war, kannte dieser Jemand vielleicht eine Wasserquelle oder zumindest einen schattigen Platz.

Irgendwann bemerkte ich, dass mir meine Brotdose abhandengekommen war, doch das war mir egal. Sie hatte seit mehreren Wochen nichts mehr Essbares gesehen. Denn das, was ich gefunden hatte, reichte meist nur, um den Hunger notdürftig zu stillen. Genug, um etwas mitzunehmen gab es schon lange nicht mehr.

Ich lief und lief, immer den Spuren folgend. Doch wie ich auch einen Fuß vor den anderen setzte schien ich nicht voranzukommen. Wie auf einem Laufband, das mich immer wieder an den Anfang brachte.

In einiger Entfernung sah ich etwas auf dem Boden liegen. Eilig lief ich dorthin. Was konnte das bloß sein? Als ich den Gegenstand endlich erreicht hatte, brach ich verzweifelt zusammen. Ich hatte eine Dose gefunden, eine leere Dose. Meine Dose.

Das hieß, dass ich im Kreis gegangen war und niemand sonst hier seine Fußspuren hinterlassen hatte. Ich war meinen eigenen Spuren gefolgt. Die ganze Zeit. Ich begriff, dass ich wohl im Kreis gelaufen war und mich hoffnungslos verirrt hatte.

Die Wüste war endlos groß, erbarmungslos, tödlich. Nichts als Sand und große Hügel, wo weit das Auge reichte. Ich wusste nicht mehr, wohin ich gehen sollte. Aber mir war klar, dass ich meine Kraft sparen musste. So legte ich mich wieder in den Sand, schützte mich notdürftig mit einer kleinen Decke vor der Sonne und wollte die kühle Nacht abwarten.

Unsanft wurde ich angerempelt und ich dachte schon, einer der Geier sei auf mir gelandet. Doch als ich erschrocken die Decke beiseite stieß, stand eine Gestalt vor mir, die ganz in Schwarz gekleidet war. Ihr Gesicht konnte ich nicht erkennen. Über der Schulter trug sie eine gewaltige Sense. Mit Entsetzen musste ich feststellen, dass die Finger, die den massiven Griff umschlossen nur aus Knochen bestanden. Da begriff ich: Vor mir stand der leibhaftige Tod. Der Sensenmann. Er kam, um mich zu holen.

„Deine Zeit ist gekommen!“, sagte er mit einer tiefen Stimme, die meinen gesamten Körper beben ließ. Die unheimliche Gestalt streifte sich die Kutte vom Kopf und ein weißer Totenschädel grinste mich breit an.

Die Klinge der Sense glänzte in der Sonne und schüchterte mich noch mehr ein. Noch verängstigter als ohnehin schon raffte ich mich auf und bemühte mich, keine Angst zu zeigen, was mir allerdings nicht gelang. Meine Knie zitterten und drohten, jeden Moment nachzugeben. Das taten sie dann auch und ich brach vor dem Tod zusammen, ohne dass ich etwas dagegen tun konnte.

„Du bist bereit“, sagte der Tod erneut, „komm!“

Dämonenversprechen

Ein ohrenbetäubendes Krachen ließ mich zusammenfahren. Was es gewesen ist, konnte ich nicht genau deuten.

Plötzlich stand ein geflügeltes Wesen vor mir. Auf seinem Kopf trug es zwei Hörner wie eine Trophäe und sein finsterer Blick schüchterte mich augenblicklich ein.

„W-was bist du?“ , brachte ich heraus. Hoffentlich nicht wieder ein Geist.

„Ich bin ein Däää…“, setzte das Wesen an.

„Ein Dä?“

„Lass mich ausreden! Ich bin ein Dääääämon. Und ich brauche deine Hilfe.“

„Du brauchst meine Hilfe?“ Verdutzt blickte ich die Gestalt an. Sie war tiefschwarz und schien direkt aus der Hölle zu kommen. Ihre Gegenwart ließ mich schaudern. Wo war ich hier nur hineingeraten? „Wie kann es sein, dass ein so mächtiger Dämon wie du es bist, meine Hilfe benötigt?“ Ich nahm einfach an, dass er mächtig war. Ihm zu schmeicheln war wohl eine Lösung, die nicht nur bei alten Frauen wirkte – so hoffte ich jedenfalls.

„Ich bin auf der Flucht vor dem Höllenfürsten persönlich. Vor dem Teufel, wie ihr Erdenbewohner ihn nennt“, klärte mich der Dämon auf.

„Vor dem Teufel?“ Panisch riss ich die Augen auf. Mit dem Herrscher der Hölle wollte ich mich ungern anlegen. Ich war zwar nicht gläubig. Aber wenn es Dämonen gab, musste es ziemlich sicher auch den Teufel geben. Bei Gott war ich mir trotzdem nicht sicher.

„Genau vor dem!“

„Wieso bist du auf der Flucht?“, rutschte es mir heraus.

„Weil ich nicht artig war. Ich habe mich geweigert, Menschen zu verbrennen! Ist das ein Verbrechen?“ Mit großen Augen sah er mich durchdringend an. Unsicher schüttelte ich nur den Kopf, da ich keine passende Antwort darauf fand.

„Und was habe ich damit zu tun?“

„Du bist der Nächste auf der Liste, der geholt werden soll.“

Mir stürzte das Gesicht schlagartig ab. „Was? Der Nächste auf der Liste? Scheiße! Ich bin erst fünfundzwanzig!“

„Das ist dem Höllenfürsten ziemlich egal. Daher müssen wir uns zusammentun.“

„Okay, ich werde dir helfen. Ich lande ungern in der Hölle. Vor allem noch nicht so früh. Ich habe noch so viel vor mir, das ich noch erleben möchte. Da ist der Teufel ein wenig zu früh dran.“

„Ein Wenig?“ Der Dämon lachte dreckig auf, was mehr einem Keuchen eines langjährigen Rauchers gleichkam. „Ich vermute, du willst noch sehr lange leben.“

„Natürlich! Ich will noch viele Jahrzehnte leben!“, stimmte ich zu. Die Situation wurde mir zunehmend unangenehmer. So über den eigenen Tod zu sprechen war mehr als makaber. Ich wusste kaum noch, was ich sagen sollte, geschweige denn, was ich tun sollte.

„Nun gut. Ich will einen Pakt mit dir schließen“, setzte der Dämon verschmitzt grinsend an.

„Einen Pakt? Schon in der Schule bei Faust haben wir gelernt, dass man nie einen Pakt mit dem Teufel schließen sollte!“, war ich sofort dagegen.

„Du magst recht behalten, aber bin ich der Teufel?“, wandte der Dämon ein.

„Ein Gefolgsmann des Teufels. Das ist mir genug höllisch“, erklärte ich. Ich wollte mich weitestmöglich aus allem heraushalten.

„Aber du hast doch schon gesehen, dass es keine andere Möglichkeit für dich gibt. Du stehst auf der Liste. Du bist der Nächste!“, argumentierte der Dämon listig grinsend. Er entblößte seine Zähne, die ebenso schwarz wie der Rest von ihm waren, von seinem schwefligen Geruch einmal abgesehen.

„Ja, aber ich fühle mich nicht gut dabei!“

„Es ist deine einzige Überlebenschance. Sieh es als gegenseitige Hilfe. Du bietest mir Asyl vor dem Höllenfürsten und ich bewahre dich dafür vor seien feurigen Fängen und beschere dir noch viele schöne Jahre, in denen ich dich begleiten und dich beschütze.“ Erwartungsvoll streckte der Dämon seine Hand aus. „Sind wir im Geschäft?“

„Du weichst mir nicht mehr von der Seite?“ Das war mir nun doch zu viel des Guten – wobei man es in Gegenwart des Dämons eher als Böses bezeichnen musste.

„Genau, ich werde dir nicht mehr von der Seite weichen. Keinen Tag, keine Nacht, nicht den kleinsten Augenblick.“

„Das ist mir ehrlich gesagt zu viel. Das will ich gar nicht“, gestand ich.

„Nun komm schon“, meinte der Dämon, der seine Hand noch immer nicht gesenkt hatte.

„Okay, aber nur, wenn mir nichts geschehen wird und niemand deine Anwesenheit bemerken wird. Ich will nicht als der, der mit dem Teufel oder einem seiner Gefolgsleute einen Pakt schließt, gesehen werden. Ich habe einen Ruf zu verlieren, den ich nicht aufs Spiel setzen möchte.

„In Ordnung, ich werde mich im Hintergrund halten. Niemand wird mich je zu Gesicht bekommen. Dennoch werde ich immer bei dir sein!“, versprach der Dämon.

Mir war zwar schleierhaft, wie er das schaffen wollte, doch da er so fordernd seine Hand ausstreckte, ging ich darauf ein.

„Schlag ein“, wiederholte der Dämon und ich tat es.

Doch in dem Moment, als sich unsere Handflächen berührten, durchfuhr mich ein blitzartiger Schmerz, der meinen ganzen Körper durchzuckte.

„Au!“, stieß ich aus und zog meine Hand zurück. Ein paar Blutstropfen fielen auf den Teppich und hinterließen unschöne Flecken. „W-was …?“, stotterte ich fassungslos.

Der Dämon hatte mit seiner Kralle bei unserem Vertragsschluss in meine Handfläche gestochen. Seine blutete ebenfalls, wie ich nun erkannte – schwarzes Blut tropfte aus seiner Wunde.

„Mit Blut besiegelte Versprechen sind unumkehrbar“, grinste der Dämon, „da ist selbst die Hölle und somit auch der Höllenfürst persönlich machtlos.“ Er rieb sich breit grinsend die Hände. „So kannst du unserem Vertrag nicht mehr entkommen. Nie mehr! Und ich auch nicht!“

„Aber …“, setzte ich an, doch ich konnte nicht zu Ende sprechen. Eine mit Blut besiegelte Vereinbarung hatte ich noch nie geschlossen. „Was nun?“

„Nun? Nun löst du erst einmal deinen Teil ein und gewährst mir Asyl vor dem Höllenfürsten!“

„Wie soll das gehen?“, wunderte ich mich.

„Ganz einfach. Du musst dazu nichts tun. Ich übernehme das.“ Ohne ein weiteres Wort stieg der Dämon vor mir in die Luft auf, begann sich zu schwarzem Rauch zu verwandeln und schwebte in dieser Gestalt kurz vor mir. Dann stieß er mir in die Brust und verschwand vollends in mir. Diese geballte böse Energie warf mich zu Boden.

„Siehst du, du bietest mir Asyl und niemand kann mich sehen. Wie du es wolltest“, hörte ich den Dämon in meinem Kopf sprechen.

„Du bist in mir?“, kreischte ich panisch. „Das war nicht vereinbart!“

„Und ob es das war. Wie soll es sonst funktionieren?“

„Und wie lange muss ich dich in mir tragen?“ Eigentlich wollte ich die Antwort lieber nicht hören, da ich bereits Böses ahnte.

„Was für eine blöde Frage! Dein gesamtes Leben natürlich! Wie soll ich sonst eingreifen können und dich steuern, falls du in Gefahr gerätst. Ich muss dich doch beschützen. Und du mich! Da ich nun in dir bin, ist es mir ein großes Anliegen, diesen Wirt zu schützen.“

„Du bezeichnest meinen Körper als Wirt?“, stieß ich panisch aus.

„Ganz genau“, hörte ich den Dämon in meinem Kopf sagen. „Ich zeige es dir. Schau mal in einen Spiegel.“

Ich gehorchte und lief ins Bad. Dort schaute mir mein gewohntes Gesicht entgegen. Doch plötzlich winkte mir meine Hand ohne mein Zutun.

„Warst du das?“

„Ja“, kicherte der Dämon.

Dann verformte sich mein Gesicht und ich sah selbst dämonisch aus. Ein finsteres Lachen, das ich nicht einmal mit jahrelangem Training hätte erreichen können, lag auf meinem Gesicht.

„Mach das weg!“, stieß ich aus und schlug gegen den Spiegel. Jedenfalls hatte ich das vorgehabt, doch kurz bevor ich den Spiegel erreicht hatte, zuckte meine Hand zurück und landete mit voller Wucht in meinem Gesicht.

„Vorsicht, wir wollen uns doch nicht verletzen!“, meinte der Dämon und lachte hämisch. „Ich bringe dich lieber ins Bett!“

Egal, wie sehr ich mich wehrte. Mein Körper steuerte direkt auf mein Schlafzimmer zu und legte sich ins Bett, wo ich auch nicht mehr die Kraft hatte, aufzustehen.

Er würde mich ein Leben lang beschützen. Ich war besessen. Besessen von einem Dämon, der die Kontrolle über meinen Körper übernommen hatte. Verpflichtet durch eine Vereinbarung, die mit Blut geschlossen worden war.

Im Traum sah ich das Höllenfeuer und konnte es auf meiner Haut spüren, wie es mich verbrannte. Doch dagegen unternehmen konnte ich nichts mehr. Der Dämon hatte die Kontrolle über mich übernommen.

Fabelwesenhilferuf

Kalter Wind wehte mir ins Gesicht. Die Stadt unter mir war mickrig wie eine aus Lego nachgebaute Miniatur-Stadt. Meine Finger krallten sich in die Mähne eines gigantischen Pferdes, dessen Flügel uns weit in die Höhe gebracht hatten. Wie genau ich in diese Situation geraten war, konnte ich mir nicht erklären. Gerade noch friedlich schlafend, saß ich nun auf diesem Wesen.

„Stopp, bring mich bitte wieder zurück!“, rief ich dem Pegasus zu, doch er reagierte nicht. Immer höher stieg er und nahm stetig an Geschwindigkeit zu. Parallel dazu wuchs auch meine Angst.

Ich versuchte, die Ruhe zu bewahren, doch es wollte mir nicht gelingen. Ich spürte, wie ich zu rutschen begann. Abstürzen war das Letzte, was hier oben wollte. Darum sammelte ich meine letzte Kraft und klammerte mich fest.

„Stopp!“, rief ich erneut, doch ebenso erfolglos wie das vorige Mal. Der Pegasus schien mich nicht zu verstehen oder er wollte nicht.

„Wohin fliegen wir?“, wagte ich einen neuen Versuch. Unerwartet hörte ich in meinem Kopf eine Stimme, die mir einen gewaltigen Schrecken einjagte. War es der Pegasus, der in meinem Kopf sprach?

Wir fliegen in den magischen Wald der Zauberwesen. Sie sind in Gefahr und brauchen Hilfe – deine Hilfe.

„Hilfe? Wieso ausgerechnet von mir?“

Du glaubst an uns. Nur wer an uns glaubt, kann uns sehen. Nur wer uns sehen kann, ist in der Lage, uns zu helfen.

„Fabelwesen gibt es wirklich?“, fragte ich verblüfft. Gehofft, dass es sie in Wirklichkeit gab, hatte ich natürlich, doch die Tatsache, dass ich bald selbst welche zu Gesicht bekam, verschlug mir den Atem.

Du fliegst auf einem Pegasus, erklärte die Stimme in meinem Kopf lachend. Ist das nicht Beweis genug?

„Ich träume bestimmt“, redete ich mir ein. Es war einfach unglaublich, wirklich auf einem Pegasus zu reiten und dann auch noch mit ihm zu sprechen!

Würde dir so etwas im Traum einfallen?

„Ich weiß nicht. Wenn ich es nicht selbst erleben würde, könnte ich es nicht für möglich halten.“ Zum Test, ob ich wirklich wach war, biss ich mir auf die Unterlippe, denn den Zwick-Test traute ich mich in dieser Höhe nicht, da ich die Mähne nicht loslassen wollte.

Und, tut es weh?, hörte ich die Stimme in meinem Kopf spöttisch fragen.

„Ziemlich weh!“, gestand ich.

Kurze Zeit später landete das anmutige Tier in einem finsteren Wald und wieherte laut. So ein Wiehern hatte ich noch nie gehört. Es war fast menschlich, wenn das überhaupt sein konnte. Dennoch, diese klangvolle Melodie, die der Kehle meines geflügelten Wächters entkam, war so anmutig wie das Tier selbst.

Als dann kurz darauf sämtliche kleine Wesen auftauchten, konnte ich meinen Augen kaum trauen.

Nicht zwicken, die sind alle echt, sagte der Pegasus in meinem Kopf.

„Ein Mensch!“, staunte ein kleines Wesen, das einen pilzähnlichen Hut trug, unter dem zottelige Haare hervorschauten.

„Oh“, machte ein anderes Geschöpf. Ich hielt es für einen Wolpertinger, auch wenn ich noch nie einen zu Gesicht bekommen hatte. Diese Mischwesen hatten mich schon immer fasziniert. Dieses Exemplar sah aus wie ein Eichhörnchen mit Flügeln und einem Entenschnabel. Süß, aber auch unheimlich sah es aus.

„Ihr braucht also meine Hilfe?“, richtete ich das Wort an all die wundersamen und wunderbaren Geschöpfe, von denen ich die seltene Ehre hatte, sie sehen zu können.

„Die Menschen“, erklärte ein Zwerg, „halten sich für die Spitze der Schöpfung und nehmen sich alles. Sie brennen Stück für Stück unsere Heimat nieder, beuten sie aus und vernichten auch uns damit. Unser Lebensraum schwindet so schnell, dass wir regelrecht rennen müssen, um dem entkommen zu können. Doch nicht nur wir leiden darunter. Auch die ganz gewöhnlichen Waldtiere leiden unter den machthungrigen Menschen.“

„Wir sind verloren“, klagte ein kleines blattartiges Geschöpf, das auf der Schulter des Zwerges saß.

„Wie kann ich euch helfen?“ Ich selbst verabscheute die Ausbeutung der Natur und wollte etwas dagegen tun, doch allein war ich machtlos und ich wusste auch nicht, was ich tun konnte.

„Du sprichst ihre Sprache“, fuhr der Zwerg fort.

„Ihr doch auch. Sonst könnte ich euch nicht verstehen.“

„So ein Dummkopf“, lachte einer der Wolpertinger. „Nur du bist in der Lage, uns zu sehen. Ebenso kannst nur du uns verstehen. Sollte uns ein anderer Mensch zu Gesicht bekommen, sehen wir für ihn wie ganz normale Tiere aus und geben auch die gewohnten Laute von uns. Da ist eine Kommunikation ausgeschlossen.“

„Unglaublich!“, fand ich. Ich konnte es noch immer kaum glauben, dass ausgerechnet ich sie sehen und verstehen konnte. „Aber was soll ich ihnen sagen? Sicher wird mir niemand glauben und ich werde für verrückt gehalten, wenn ich von Fabelwesen spreche, die sonst keiner sehen und verstehen kann. Da werde ich noch in die Irrenanstalt eingewiesen.“

„Wir helfen dir natürlich“, erklärte der Zwerg. „Zwar kannst nur du uns verstehen, aber das ist unser großer Vorteil. Wenn du mit uns zu den Menschen gehst, musst du nur übersetzen. Den Rest überlässt du uns.“

„Mir ist etwas unwohl dabei, wenn ich nicht weiß, was auf mich zukommt“, fand ich, doch ich ließ mich darauf ein.

Seitenwanderer

Meine Augen wurden immer schwerer, dann sank mein Kopf auf die Tischplatte.

„Hallo?“, fragte plötzlich jemand.

„Ist da jemand?“, wollte ich wissen.

„Ja, ich.“ Da hob sich der Deckel des Buches vor mir und ein paar kleine Figuren kletterten zwischen den Seiten hervor. Mit großen Augen sah ich hinter meiner Brille hervor. Konnte das wirklich sein?

„Kannst du mir eine Typberatung geben?“, bat eine der Figuren.

„Eine was?“ Verblüfft guckte ich die Figur an.

„Kannst du mir eine Typberatung geben?“, wiederholte das Männlein.

„Ich weiß gar nicht, was du damit meinst“, gestand ich. „Ich versuche gerade damit klarzukommen, dass du aus meinem Buch gekrabbelt bist.“

„Das ist doch nichts Besonders. Ich mache das jede Nacht. Ein Wunder, dass du das noch nicht bemerkt hast.“

„Wie auch, wenn ich da schlafe. Aber zurück zu dieser Typberatung: Was soll das eigentlich sein?“, wollte ich endlich wissen.

„Im Duden steht, dass die Typberatung sich an alle richtet, die aus reinem Unwohlsein oder aus bestimmten Gründen eine äußerliche Veränderung wünschen.“

„Im Duden?“

„Da schlüpfe ich auch nachts ab und zu rein. Ich bleibe ja nicht immer im selben Buch.“

„Echt cool, dass du sowas kannst.“

„Kannst du mir nun endlich eine Beratung geben?“, bohrte das Männlein.

„Bist du unzufrieden mit dir?“

„Ich will das Genre wechseln.“

„Das klingt echt aufregend“, fand ich.

„Und?“, forderte es mich auf.

„Dann wollen wir doch mal anfangen.“ Ich musterte das Männlein, das auf dem Buch mit überkreuzten Beinen hockte und aufgeregt hin- und herwippte. „Du bist sehr schlank und hast helle Haut.“

„Ich weiß.“ Es betrachtete seine Spinnenbeine und die fast schon leuchtende Haut, so hell war sie.

„Du könntest als Spion in einer actionreichen Fantasy mitspielen oder als magisches Wesen in einer idyllischen Romantasy.“ Da kam mir eine andere Frage in den Sinn. „Woher kommst du eigentlich?“

„Ich komme aus Gullivers Reisen. Ich war schon an vielen Orten.“ Das Männlein schloss die Augen. „Ich habe Gulliver nach Liliput, Brobdingnag, Laputa, Balnibarbi, Luggnagg, Glubbdubdrib und Houyhnhnms begleitet. Jetzt suche ich eher etwas ruhigeres.“

„Ich kenne das Buch, aber ein Wesen wie dich habe ich darin nicht gefunden“, gestand ich.

„Ich habe mich auch immer verdeckt gehalten und komme nicht im Buch vor“, klagte es. „Nun will ich meine eigene Geschichte bekommen.“

„Da fällt mir etwas ein. Magst du Drachen?“

„Kommt darauf an.“ Leicht unsicher schaute mich das Männlein an. „Liebe oder böse Drachen?“

„Kennst du Drachenreiter von Cornelia Funke?“

„Nein, was ist das? Ist diese Funke eine Magierin? Kann sie mit dem Feuer sprechen oder gar tanzen?“

„Das kann sie nicht. Aber sie beherrscht meisterhaft die Wörter und kann ganze Welten erschaffen. Sie ist eine Meisterin in ihrem Fach und hat tatsächlich etwas wie eine Gabe, so atemberaubend, wie ihre Geschichten sind.“

„Steht das Buch hier? Dann müsste ich es eigentlich kennen.“

„Ich habe es nicht in meinem Arbeitszimmer. Es steht neben ihren anderen Büchern in meinem Buchregal“, erklärte ich. „In Drachenreiter gibt es einen Homunkulus namens Fliegenbein. Sicher würdet ihr euch hervorragend verstehen. Er ist in etwa so groß wie du und ist sehr hell. Der Drache Lung ist eine reine Seele und sehr herzlich, das Koboldmädchen Schwefelfell hingegen ist etwas launisch. Sie ist oft misstrauisch und flucht gerne. Diese magischen Wesen werden von Ben, einem kleinen Menschenjungen, begleitet.“

„Das klingt sehr toll“, schwärmte das Männlein. „Ich bin auch ein Homunkulus. Kannst du mir das Buch bringen? Ich würde gerne darin eintauchen und ein paar Tage darin verbringen. Falls es mir nicht zusagt, kann ich immer noch herausspringen und eine neue Geschichte suchen.“

„Wie aufregend. Das würde ich auch gerne können“, erklärte ich. Davon träumte ich, seit ich ein Kind war. Wie gerne wäre ich in die Bücher eingetaucht und wäre ein Teil davon gewesen. Auch in Cornelia Funkes Tintenwelt konnten die Figuren aus dem Buch hinaus- oder Menschen hineingelesen werden. Allerdings konnten das nur ausgewählte Leser, die eine sogenannte Zauberzunge hatten. Mortimer und Orpheus besaßen diese Gabe – ich hatte es nächtelang selbst versucht, doch nie war es mir gelungen. Bis heute nicht.

Ich stand auf und brachte dem kleinen Männlein das Buch und es musterte aufgeregt das Cover. Dann hob es den Deckel an und schlüpfte zwischen die Seiten, als sei es ein Vorhang, hinter dem es sich verstecken konnte.

Da knallte mein Kopf auf die Tischplatte und ich wachte auf. Verschlafen blinzelte und musste an meinen Traum denken.

„Ach“, seufzte ich, „es war zu schön, um wahr zu sein.“

Ich setzte meine Brille auf und wollte gerade nach einem Stift auf meinem Schreibtisch greifen, als mein Blick auf Drachenreiter fiel, das dort aufgeschlagen lag. Eine der Zeichnungen zeigte ein kleines Männlein, das sehr glücklich wirkte.

War das doch nicht nur Traum gewesen?

Hundegespräch

Neben meinen Geschichten liebte ich nichts so sehr wie die Natur und die Tiere. Oft wünschte ich mir, dass sie sprechen könnten. Darum sprach ich oft mit ihnen, wenn ich welche sah, denn ich glaubte fest daran, dass sie mich verstehen konnten.

Auch heute lief ich eine Runde durch den Wald, meinen Hund an der Leine, und hing meinen Gedanken nach.

„Ist das nicht ein herrlicher Morgen, Micky?“, fragte ich meinen Hund und dachte weiter nach, da ich ohnehin keine Antwort bekam, doch plötzlich hörte ich eine leise Stimme.

Ne!

„Was?“ Ich fuhr erschrocken herum, doch weit und breit war niemand zu sehen. Außer meinem Hund Micky und mir war kein Mensch im Wald.

Nach wem suchst du? Ich kann niemanden wittern.

Wieder wandte ich mich. „Hallo? Wer spricht da?“ Doch so sehr ich mich auch bemühte, sehen konnte ich niemanden.

Depp! Da kannst du lange Ausschau halten! Guck einfach mal nach unten, dann siehst du mich!

Verdattert senkte ich den Blick und guckte meinen Hund an. „Micky“, lachte ich auf, „ich glaube, ich bin verrückt geworden. Ich höre schon Stimmen. Kannst du das glauben?“

Depp!, sagte wieder jemand zu mir.

„He“, rief ich empört nach vorn, „wieso nennst du mich die ganze Zeit einen Deppen? Wer spricht hier überhaupt?“

Na gut, du bist wirklich zu dämlich, um es zu verstehen. Normalerweise sage ich immer ‚Wau! Wau!‘, aber da verstehst du ja auch nichts.

Wau! Wau!?“ Wieder blickte ich Micky an, der zu mir aufsah. Na super, jetzt guckte mich schon mein Hund blöd an, weil ich Wau! Wau! machte. Er hielt mich sicher auch für verrückt. Was er wohl dachte. „Ach Micky, ich würde so gerne manchmal wissen, was du denkst. Was du über mich denkst. Ob du überhaupt etwas denkst.“

Na jetzt reicht es mir aber! Blöder geht doch gar nicht. Ich, Micky, dein Hund, spricht die ganze Zeit mit dir. Und ja, ich kann denken, ja, ich verstehe dich und ich halte dich gerade für ziemlich bedeppert. Ballaballa, wenn du es genau wissen willst!

„Micky, du kannst sprechen?“ Ungläubig glotzte ich meinen vierbeinigen Freund an.

Jippie, er hat es gerallt. Natürlich kann ich sprechen, du doch auch! Du verstehst mich bloß nie! Und denken kann ich auch sehr gut. Ist wahrscheinlich besser, dass du mich sonst nie verstehst. Du würdest mich glatt ins Tierheim stecken.

Ich konnte es noch immer kaum glauben, dass mein Hund da gerade sprach. War das wirklich möglich? „Was denkst du denn über mich?“, interessierte ich mich. Er wusste es schließlich, was ich über ihn dachte, da ich es leider oft genug ausgesprochen hatte.

Na ja, der weißeste Knochen vom Skelett bist du jedenfalls nicht. Außerdem finde ich es verrückt, dass ich an der Leine gehen muss, obwohl ich höre und du mir mein Häufchen in so einem schwarzen Plastikbeutel hinterherträgst. Das mache ich doch auch nicht mit deinem Würstchen. Vor allem, warum gehst du immer aufs Klo und lässt die Kacke in deinem Haus in diesem eigenartigen Wasser-Teil liegen anstatt mit mir draußen auf die Wiese zu gehen. Dann stinkt es zuhause nicht so.

Mehr als verblüfft musste ich erst einmal nach Worten suchen, bis ich mich wieder fasste. Das war etwas zu viel auf einmal. „Ich gehe zuhause, weil es dort besser ist … ach, wieso muss ich mich dafür rechtfertigen? Wieso gehst du nicht zuhause aufs Klo? Dann müsste ich nicht bei Wind und Wetter mit dir vor die Türe.“

Pff, hast du schon mal gesehen, wie ich auf dem Klo sitze?

„Nein.“

Was denkst du, wieso? – Weil ich so etwas nicht mache! Finde dich damit ab. Und noch etwas: Ich finde es unheimlich, wenn du abends dein Hypnose-Gerät – ich glaube, du nennst es Fernseher – einschaltest und dich über eine Stunde nicht bewegst. Bist du da tot, während das bunte Licht auf dir flimmert? Was ich auch seltsam finde, dass dieser schwarze Würfel sprechen kann.

„Der Fernseher?“ Ich wusste kaum noch, was ich sagen sollte. Doch in einem Punkt war ich mir sicher: Da ich nun wusste, dass Micky mich verstehen konnte, würde ich in Zukunft viel mehr mit ihm reden und ihn in Entscheidungen miteinbeziehen. Wie genau ich das umsetzen konnte, wusste ich noch nicht, aber machen wollte ich es auf alle Fälle.

„Wieso kann ich dich eigentlich verstehen?“, fiel mir nun auf.

Ich weiß es nicht. Das ist allerdings nur einmal im Jahr möglich, nur für einen Tag. Und dieser Tag wechselt ständig.

„Micky, wir müssen so viel besprechen“, fand ich und machte mich auf den Heimweg. Ich wollte alles mit ihm klären, was ich nie ganz wusste. Angefangen mit den Leckerlies bis hin zu den Schlafenszeiten. Viel zu viel war noch ungeklärt. Nun hatte ich die einmalige Gelegenheit dazu, dies zu ändern. Das musste ich nutzen.

Ich komme! Eine Wahl habe ich eh nicht, da ich an der Leine hänge!, motzte Micky und rollte mit den Augen. Menschen sind schon eine lustige Spezies! Er jaulte vor lachen, dann ließ er sich an der Leine mitziehen.

„Micky, ich finde es unfair, dass du so über mich sprichst!“, empörte ich mich. „So rede ich auch nicht über dich!“

Oh, denk lieber nochmal genau nach! Dann fällt dir bestimmt ein, dass du schon mehr als einmal so über uns Hunde gedacht hast. ‚Scheiß Köter‘ und ‚Dieses nervtötende Gekläff‘ waren noch die harmlosen Ausdrücke, falls du dich erinnerst.

Beschämt senkte ich den Blick. „Aber das hatte auch einen guten Grund!“

Ich weiß, denn ich soll dir hören und ein braver Bello sein. Hast du schon mal dran gedacht, dass ich auch meine eigenen Bedürfnisse habe?

„Welche denn? Jetzt kannst du es mir ja sagen. Willst du Stöckchen-Werfen spielen?“ Ich hob einen Stock auf und wedelte damit vor seiner Schnauze herum. Die Leine entfernte ich vorher wohlweislich.

Nein, danke. Ich hasse dieses spiel. Während er das sagte, begann jedoch sein Schwanz eine ganz andere Meinung zu haben. Micky wedelte und hechelte so sehr, als könne er es kaum abwarten. Dieser beschissene Spiel-Treib!, motzte er, dann preschte er dem Stöckchen bellend hinterher. Nur, dass ich diesmal genau verstand, was er bellte: Stock! Stock! Stock!

Als er ihn mir wieder brachte, streichelte ich ihn zur Belohnung. „Wie brav du bist, Micky. Ich bin stolz auf dich!“

Ich hasse Stöckchen-Werfen!, motzte er.

„Das sah eben ganz anders aus“, amüsierte ich mich. „Schau“, ich holte aus und warf das Stöckchen so weit ich konnte in die Wiese.

Micky hastete augenblicklich los. Stock! Stock! Stock!

Können wir bitte heimgehen?, klagte er. Ich dachte, du hast noch einige Dinge mit mir zu besprechen …

„Schade, es hat doch gerade so viel Spaß gemacht“, gab ich glücklich grinsend nach.

Schön, dann werfe ich das nächste Mal für dich!

„Tut mir leid, da sitze ich lieber starr vor meinem Hypnose-Gerät und lass mich vom flimmernden Licht beleuchten.“

Spaßverderber! Wau! Wau! Grrrr! Wau!

„Micky? Wieso bellst du nur? Sprich doch mit mir!“ Aber so sehr er sich auch bemühte, ich konnte ihn nicht mehr verstehen.

Wau! Wau! – Wau! Wau! Wau!

„Nein, bitte sprich wieder. Es kann doch unmöglich schon vorbei sein!“

Leider war die einzige Antwort, die ich bekam, ein weiteres Bellen, dann ein klägliches Winseln. Micky wedelte etwas mit seinem Schwanz und stupste mich mit seiner feuchten Nase an.

„Ach, Micky“, seufzte ich und streichelte ihn. „Es wäre zu schön gewesen, wäre es wahr. Ich bin dennoch überzeugt, dass du mich verstehen kannst.“

Wie zur Zustimmung stellte er nun seine Vorderbeine an meinen Bauch und bellte dreimal hintereinander. Leicht wehleidig streichelte ich meinen pelzigen Begleiter und legte ihm wieder die Leine an, denn der Heimweg verlief an der Straße, was mir zu gefährlich war, um ihn frei laufen zu lassen.

Das Hundetütchen in meiner Hand erinnerte mich an unser voriges Gespräch und ich musste grinsen. Hatte es wirklich stattgefunden? Wenn ja, war es einfach zu schön, um wahr zu sein. Ansonsten war es ein schöner Traum gewesen, der so lebendig gewesen war, dass ich glaubte, es selbst erlebt zu haben.

„Micky, du bist mein bester Freund!“

Meerjungfrauenrettung

Das Rauschen des Meeres und das melodische Kreischen der Möwen lag in meinen Ohren. Salziges Wasser tanzte um meine nackten Füße und zog den Sand darunter zurück ins Meer. Für mich gab es keinen schöneren Ort auf der Welt als am Meer. Leider konnte ich diesen Sehnsuchtsort nur im Urlaub genießen, was viel zu selten war.

Langsam lief ich am Strand vorüber und suchte nach schönen Muscheln. Gefunden hatte ich bisher nur einmal eine Muschel, die sich von den gewöhnlichen Kalkschalen abgehoben hatte. Doch dieses Glück schien mir auch heute nicht gegönnt zu sein.

Weiter entfernt vom stark besuchten Strand lagen Algen am Ufer und erdige Flächen, deren Pflanzen nach dem Wasser zu greifen schienen. Mir war klar, warum sich hier niemand herverirrte. Auch ich wollte hier nicht baden, doch mehr als zu baden liebte ich es, die Natur in ihrem natürlichen Zustand zu sehen. Ganz ohne Touristen, ohne menschengemachte Bauwerke – oder Müll. Leider fand ich diese naturbelassenen Flecken immer seltener. Der Mensch hatte einen Großteil der Erde für sich in Anspruch genommen und hatte ihn in seiner Gier verdreckt und zerstört.

Ich hing weiter meinen Gedanken nach, während ich meinen Blick über den Boden wandern ließ. Doch auch hier gab es keine außergewöhnliche Muschel zu finden. Zu allem Übel fand ich allerdings Müll, den ich frustriert mitnahm. Wieso konnte es nirgends mehr einen Platz geben, der nicht von Müll verdreckt, vom Menschen verschandelt, von der Gier zerstört war? Einfach unberührt und artenreich.

Doch wie ich so in dem Wasser herumwühlte, um die Plastikteile herauszufischen, zappelte es plötzlich neben mir. Bestimmt ein Fisch, der sich verfangen hatte, vermutete ich. So hob ich behutsam einige der glitschigen Algenstränge und angetriebenes Holz hoch. Finden konnte ich allerdings keinen Fisch. Erst nach intensiver Suche machte ich eine schuppige Flosse aus, die zitternd versuchte, aus ihrem Gefängnis zu entkommen – gefangen in einem Netz aus Plastik, das hier ganz und gar nicht hergehörte. Behutsam griff ich nach dem Netz und versuchte es zu lösen, doch es gelang mir nicht. Das Tier spürte meine Anwesenheit und wurde merklich nervöser. Es zappelte verschreckt mit seiner Flosse und versuchte zu fliehen, was ihm nicht aus eigener Kraft gelang. Obwohl ich wusste, dass mich der Fisch nicht verstehen konnte, machte ich instiktiv „schhhh“, um ihn zu beruhigen. Tatsächlich wurde das Tier ruhiger. Ich befreite es aus seinem Gefängnis aus Plastik, doch was ich dann zu Gesicht bekam, ließ mir den Atem stocken. Was von unten wie ein Fisch aussah, war in Wirklichkeit eine …

„Das ist ein absolut unpassender Ort für eine Meerjung­frau“, stieß ich verblüfft aus. Ich konnte es kaum für möglich halten. Da lag wahrhaftig eine Meerjungfrau vor mir, die nicht größer als ein Kleinkind war. Ihre zarten Glieder schillerten ebenso wie ihr schuppiger Unterleib. Mit großen Augen blickte mich das bezaubernde Wesen an.

„Warum schwimmst du nicht davon, kleine Meerjung­frau?“, fragte ich das zerbrechliche Wesen. Mit traurigem Gesichtsausdruck deutete sie auf ihre Flosse, die – wie ich jetzt erst bemerkte – verletzt war.

„Soll ich dir helfen?“, bot ich an. Da sie keine Anstalten zu fliehen machte, hob ich sie behutsam hoch und wickelte sie in ein Handtuch ein, das ich noch dabei hatte. So verdeckte ich den Fischschwanz. Ihre kleinen Finger, an denen sich Schwimmhäute befanden, verbarg sie ebenfalls darunter. Trotz ihrer magischen Erscheinung wirkte sie so wie ein ganz normales Kleinkind. Konnte ich es wagen, sie so durch die Straßen bis zu meiner Unterkunft zu tragen? Wohl oder übel musste ich es versuchen. Die kleine Meerjungfrau saß ruhig auf meinem Arm. Sie schien zu spüren, dass ich ihr helfen wollte und keine Gefahr für sie darstellte.

Erstaunlicherweise schenkte uns niemand Beachtung, als ich mit dem Bündel auf dem Arm durch die Straßen lief. Nur die Wenigsten guckten mich überhaupt an. In diesem Moment war ich froh darüber. Sonst fand ich das mehr als unverschämt.

Das magische Geschöpf auf meinem Arm brabbelte nach einer Weile unentwegt vor sich hin. Allerdings auf einer mir unbekannten Sprache, sodass ich nichts verstehen konnte.

„Keine Sorge, ich werde dir helfen. Deine Flosse wird wieder heilen“, sprach ich auf sie ein. Ihre aufmerksamen Augen musterten mich und ich hatte das feste Gefühl, dass sie genau verstand, was ich gesagt hatte.

„Hülfä“, wiederholte sie mit klarer und hoher Stimme meine Worte. Ich grinste, als sie mir nachzusprechen versuchte.

„Ich bin eine Meerjungfrau“, sagte ich langsam und wartete neugierig ab, was geschah.

In blubbernder Aussprache und mit weit aufgerissenen Augen wiederholte sie meinen Satz: „Ich bbbin eine Meeungau.“ Ihr Satz klang eher nach einem startenden Motor und einem vorbeifahrenden Motorrad. Kichernd blickte ich sie an.

„Kleines, magisches Wesen, ich mag dich jetzt schon. Zu schade, dass die Menschheit euch auszurotten versucht.“

Nachts im Krankenhaus

Es war Nacht. Wie auch die Nächte davor konnte ich nicht gut schlafen. Es war Vollmond. In Vollmondnächten tat ich mich immer schwer, wenn der Mond seine gleißend hellen Strahlen durchs Fenster warf.

Doch etwa war anders. Ich blickte mich um. Ich lag nicht in meinem Bett. Ich war wo anders. Die weißen Wände und das spärlich eingerichtete Zimmer deutete darauf hin, dass ich in einem Krankenhaus sein musste. Doch wieso bloß? Verwundert kratzte ich mich am Kopf. Mein Finger ertastete eine Beule. Da fiel mir alles wieder ein …


Der Vollmond – schau, wie schön er leuchtet“, rief mir mein Freund zu. Um ehrlich zu sein war er gar nicht mein Freund. Tom war eine Klasse über mir und hatte mich regelrecht gezwungen, dass ich mitgekommen war. Es sollte eine Mutprobe sein. „Tom“, hatte er gesagt, „wenn du kein Feigling sein willst, kommst du heute Punkt Mitternacht in den Park. Dort treffen wir uns und dann laufen wir gemeinsam über den Friedhof.“ So hatte ich es dann auch gemacht.

Können wir wieder umkehren?“, flehte ich, denn mit jedem Schritt wurde mir unwohler.

Wusste ich doch, dass du ein kleiner Feigling bist“, stichelte Tom und grinste gehässig. Der Mont tauchte ihn in fahles Licht, was ihn unheimlich aussehen ließ.

Tom, ich bin kein Feigling.“

Ich werde es morgen in der ganzen Schule herumerzählen, dass du dich nicht getraut hast, mit mir über den Friedhof zu laufen.“

Bitte nicht!“ Erschrocken blickte ich ihn an. Würde er das tun, war für mich die Schule gelaufen. Tom war der coolste Schüler – zumindest fühlte er sich so – und alle hörten darauf, was er erzählte.

Es ist schwer, so etwas zu verheimlichen“, meinte er.

Ich komme ja schon mit. Aber bitte, sage niemandem etwas davon.“

Wieso? Wenn du tapfer warst, können es doch ruhig alle erfahren. Dann bist du beliebt.“ Er guckte mich listig an.

Na gut.“

Dann los, die Toten sind schon ganz ungeduldig. Sie gieren gerade zu nach Frischfleisch.“

Mach mir keine Angst!“ Meine Stimme zitterte.

Ah, du hast doch Angst.“ Er lachte hämisch. „Alle werden dich auslachen.“

Unverhofft drang ein Heulen an meine Ohren. Es klang gespenstisch. „Hast du das gehört?“

Was, Angsthase?“

Dieses Heulen. Es klang – wie ein Wolf.“

Ha, du Schisser!“, lachte Tom. „Alle werden dich auslachen.“

Wir betraten den Friedhof, der nahe am Wald lag und schlossen das knarzende Tor wieder hinter uns. Es lag leichter Nebel in der Luft und ich fror entsetzlich. Ein Schauer jagte den nächsten über meinem Rücken.

Die Gräber lagen wie bedrohliche Fallen vor mir.

Ich blickte mich um, als ein Ast knackend hinter uns zerbrach. Sogar Tom schreckte zusammen. Und dann sahen wir ihn: Vor uns stand ein Werwolf. Auf seine Hinterläufe aufgerichtet, guckte er uns finster knurrend an. Seine Zähne blitzen im fahlen Mondlicht. Speichel triefte über die Lefzen. Sein Atem stank abscheulich.

W-was ist das?“, kreischte Tom.

Meine Hoffnung, dass es nur ein verkleideter Freund Toms war, erstarb auf der Stelle.

Hiiiiilfe“, brüllte ich und rannte los. Ich stürmte über die schmalen Wege und steuerte diret auf einen großen Baum zu. Da traf mich ein harter Schlag am Hinterkopf und ich spürte, wie mir die Knie zusammensackten.


Erneut tastete ich meine Beule ab.

Nun erinnerte ich mich wieder an alles.

Als ich ein Heulen von draußen vernahm, ergriff mich augenblicklich die blanke Angst. Hatte der Werwolf mich etwa gefunden?

Gargoyle-Versammlung 01

Die Einladung war urplötzlich auf meinem Schreibtisch aufgetaucht. Weder eine Eule wie bei Harry Potter noch ein schwefeliger Geruch wie bei Bibi Blocksberg war zu vernehmen. Wir kam dieses Stück Papier hierher?

Doch meine Neugier siegte über die Skepsis schnell und schon hatte ich den Briefumschlag aufgerissen. Die Schrift war altertümlich und ließ mich staunen:

Hiermit wirst du, Niklas, zur Jahrhundert-Jahreshauptversammlung der Gargoyles einberufen. Bitte erscheine zahlreich. Die Versammlung tagt unter Tage, da unsereiner das Sonnenlicht als Feind betrachte. Bitte erscheine zur Vollmondnacht Punkt Mitternacht am alten Schloss.

Wahnsinn! Eine Einladung von Gargoyles und ausgerechnet ich war eingeladen. Mir kam die Begegnung mit dem Pegasus wieder in den Sinn: Ich war einer der wenigen Menschen, der an Fabelwesen glaubte und sie sehen und verstehen konnte. Daher wohl auch diese Einladung. Und Vollmond war noch diese Nacht. Also machte ich mich schnell auf den Weg, um das Schloss rechtzeitig zu finden, denn ich wusste nicht genau, wo es sich befand und wollte keinesfalls zu spät erscheinen.


Der Mond strahlte hell über mir, als ich das alte Gemäuer vor mir erblickte. Etliche geflügelte Wesen verdunkelten immer wieder den Schein des Mondes, der fahles Licht auf die kalten Mauern der Burg warf. Plötzlich landete neben mir eines der Wesen. Es sah aus wie ein geflügelter Affe. Ich spürte, wie ich nervös wurde, wollte es mir allerdings nicht anmerken lassen.

„Niklas?“, krächzte das Wesen. Seine Stimme klang, als würde man Steine über Sandpapier reiben.

„Ja, der bin ich“, bestätigte ich.

„Perfekt.“ Das Wesen stieß einen schrillen Pfiff auf, worauf zwei weitere geflügelte Wesen neben mir landeten. Ihre gewaltigen Schwingen ragten wie gewaltige Segel gespenstisch in die Nacht, als wollten sie nach dem Mond greifen. Sie nahmen mich an den Armen und ehe ich mich versah, flog ich schon durch die Luft. Geradewegs auf den antiken Thronsaal des ehrwürdigen Gebäudes brachten sie mich. Durch ein zerbrochenes Fenster drangen sie ins Innere und setzten mich mitten im Saal ab. Auf dem Thron saß ein besonders großes Exemplar, dessen Größe seine Artgenossen um Mengen überragte. Sicher war es der König oder Anführer. Ehrfurchtsvoll verneigte ich mich, dann trat das gigantische Wesen beiseite und gab den Blick auf einen fast schon mickrigen, dafür besonders schrumpeligen Gargoyle frei.

„Sei gegrüßt, Verbündeter der Fabelwesen. Willkommen auf der Versammlung der Gargoyles, die nur alle hundert Jahre stattfindet. Daher schätze dich glücklich, diese Ehre teilhaben zu können. Ich bin König Grgfhr“, knirschte er und schenkte mir einen freundlichen Blick, was fast unmöglich in diesem faltigen Gesicht schien.

Noch einmal verneigte ich mich, diesmal noch tiefer. „Vielen Dank, ich weiß diese Ehre zu schätzen.“

„Ich weiß, nur darum kannst du uns sehen“, grollte der Leibwächter des Königs – zumindest vermutete ich, dass er es war.

„Genug, Hmpfr! Ich spreche!“

Eingeschüchtert wie ein kleines Kind zog das gewaltige Geschöpf seine Flügel ein und duckte sich.

„Nun denn, lasset unsere Konferenz beginnen. Ich vermute, die anderen Mitglieder werden noch erscheinen, doch wir wollen nicht warten. Die Zeit drängt.“

Etwas leiser erklärte mir ein kleines Gargoyle-Kind, dass seine Art nur alle hundert Jahre für eine Nacht zum Leben erweckt werden konnte, da auf ihnen ein uralter Fluch lastete. Die restliche Zeit zierten sie als Steinfiguren alte Gemäuer wie dieses Schloss, auf dessen Dächern und Regenrinnen sie saßen. Zwar bekamen sie alles mit, doch der Stein hielt ihre Glieder so starr, dass sie nicht den kleinsten Muskel rühren konnten.

„Darum“, fuhr das Kind fort, „brauchen wir dich, damit du uns von diesem Fluch erlösen kannst.“

„Mich? Was soll ich den machen?“

„Du“, hakte sich der König ein, „musst das Wasser des Lebens finden, von dem wir trinken. Dann schwindet der Stein aus unseren Gliedern und wir sind aus dem ewigen Schlaf erlöst. Nur tagsüber fristen wir dann unser Dasein als Steinfiguren, des nachts wären wir wieder frei.“

„Das klingt schwer. Wie soll ich das schaffen und wieso seid ihr überhaupt verflucht?“

„Unser Vorfahr, der Drache Le Gargouille, spie anstatt Feuer Wasser und brachte so eine Katastrophe um Katastrophe über das Land. Das Scheusal wurde von einem Alchemisten im achten Jahrhundert versteinert. Es kann auch nicht mehr geweckt werden. Doch leider wurden auch wir, seine Kinder, teils von diesem Fluch getroffen und sind nun zu Jahrhunderte langem Abwarten in steinerner Schale verdammt.“

„Ich weiß nicht, soll ich das wirklich wagen. Nicht, dass dieses Ur-Monster doch noch erweckt wird.“ Ich machte mir Sorgen, dennoch wollte ich ihnen helfen.

„Keine Angst, Le Gargouille hat ausgespukt. Er wurde von diesem Alchemisten zerstört, nachdem er ihn versteinert hatte. Die Möglichkeit, ihn noch einmal zurückzuholen, existiert gar nicht mehr.

„Nun ja, wenn das so ist, dann will ich euch helfen“, war ich einverstanden.

Doch gerade, als ich noch fragen wollte, wo ich dieses spezielle Wasser finden konnte, schien der erste Sonnenstrahl durch eines der Fenster und die geflügelten Gargoyles erstarrten augenblicklich. Ich konnte zusehen, wie ihnen ein Panzer aus Stein zu wachsen begann. Leicht betrübt schaute ich ihnen dabei zu.

Mein Entschluss stand fest: Ich wollte ihnen auf alle Fälle helfen. Egal, wie lange ich dafür brauchen würde. Spätestens vor ihrem nächsten Erwachen hatte ich das magische Wasser beschafft und ihnen für ihr nächstes Erwachen bereitgestellt. Auch, wenn ich es wahrscheinlich selbst nicht mehr miterleben konnte.

Gargoyle-Versammlung 02: Drachenschatten

Da verdunkelte sich alles um mich herum. Irritiert schaute ich hinauf zu den vielen Fenstern. Was ich dort erblickte, ließ mir den Atem stocken. Zuerst dachte ich an eine Wolke, doch dann erkannte ich, dass es wahrhaftig ein Drache war, der gerade die Sonne verdunkelte. Verängstigt stolperte ich nach hinten und stürzte über einen der versteinerten Gargoyles, der direkt hinter mir zu Stein erstarrt war.

Einige Zeit verharrte ich und wagte nicht zu atmen, doch dann dachte ich an meinen Entschluss. Ich wollte und musste den Gargoyles helfen und ihnen dieses heilende Wasser, das Wasser des Lebens, besorgen. Vielleicht kannte der Drache den Weg. Schließlich war er ebenfalls ein magisches Geschöpf und sicher sehr alt. So kannte er bestimmt den Ort, wo ich das Wasser des Lebens finden konnte.

Doch gerade, als ich mich aufrappelte, fiel mir etwas ein: Der Drache Le Gargouille, der Auslöser für den Fluch war, war sicher mit dem anderen Drachen irgendwie verwandt. Falls nicht, waren sie jedenfalls Artgenossen. Da war der andere Drache sicher nicht gut auf die Gargoyles zu sprechen. Eine andere Möglichkeit fiel mir jedoch nicht ein, so trat ich ins Freie und machte das gewaltige feurige Wesen auf mich aufmerksam. Wild fuchtelte ich mit meinen Armen herum und rief so laut ich konnte nach ihm.

„Drache! Hilf mir. Drache!“, schrie ich zu ihm hinauf. „Bitte! Kennst du den Weg zum …“ Der Rest meines Satzes blieb mir im Halse stecken, denn das gewaltige Geschöpf hatte mich entdeckt und setzte kreisend zum Sinkflug an.

Der Boden bebte, als er neben mir aufsetzte und mit schweren Gliedern auf mich zulief. Trotz seiner gewaltigen Größe bewegte er sich mit einer Eleganz, die wohl nur ein Drache beherrschte.

„Duuuu, Winzling!“, fauchte er und starrte mich mit seinen glühenden Augen an. Beim Sprechen entblößte er seine messerscharfen Zähnen, die bedrohlich blitzen.

Meine Knie wurden augenblicklich weich wie Butter und ich musste mich beherrschen, um nicht vor ihm davonzurennen.

„I-ich b-b-brauche deine H-hilfe“, erklärte ich dem mächtigen Wesen. Dieser brach im selben Moment in schallendes Gelächter aus, das wie ein Erdrutsch klang, der etliche Steine mit sich in eine tiefe Schlucht riss.

„Meine Hilfe!“, dröhnte der Drache. „Was springt für mich dabei heraus? Und was begehrst du, Winzling? Euch Menschen interessiert immer nur Gold, Macht und andere Reichtümer!“ Spöttisch schlug er seine Pranke neben mir auf den Boden, dessen Wucht mich umfallen ließ. Schnell rappelte ich mich wieder auf. „Kleine Egoisten seid ihr Menschen. Aber gut, was begehst du? Sag, Winzling!“

„Wir sind nicht alle gleich!“, rechtfertigte ich mich zuerst, denn so wollte ich es nicht stehenlassen. Ich selbst hasste es, von welcher Gier sich die Menschen leiten ließen. Diese Gier hatte alles Magische aus ihrem Leben getrieben, denn gab es etwas Wertvolles, brachten sie es entweder um oder verkauften es. Oh, wie ich die Gier der Menschheit verabscheute!

„Nun denn, wenn du so anders bist, was ist dein Begehr?“, ließ sich der Drache darauf ein.

„Ich suche das Wasser des Lebens“, erklärte ich mit fester Stimme. „Ich will, dass du mir den Weg dorthin zeigst.“

Für einen langen Moment war der Drache still. Er schien verblüfft von meiner Bitte zu sein. „So … so etwas hat sich seit tausend Jahren niemand mehr gewünscht. Etwas Magisches suchen die Menschen nie.“ Er atmete schnaubend aus. „Und was kannst du mir bieten, Winzling?“

„Ich weiß es nicht. Was willst du, großer Drache? Ich kann Fabelwesen verstehen und sehen. Das macht mich zu einem außergewöhnlichen Menschen. Ich könnte dir helfen, andere Fabelwesen zu retten, mich mit ihnen verständigen, wenn du willst.“

„Ha, was für eine lächerliche Idee!“, keifte der Drache. „Wer sagt, dass ich mich mit anderen Fabelwesen verständigen möchte. Ich hasse andere Fabelwesen. Sie sind alle so klein, immerzu froh und so unendlich naiv und dumm. Fast so wie ihr Menschlein.“ Er hielt inne. „Was genau hast du eigentlich mit dem Wasser des Lebens vor? Du willst wohl unsterblich werden.“

„Geht das?“, stutzte ich.

„Zu nichts anderem können Menschen und nichtmagsiche Wesen dieses Wasser einsetzen“, erklärte der Drache.

„Das wusste ich nicht. Aber nein, ich möchte versteinerte Fabelwesen ins Leben zurückholen und sie von einem uralten Fluch befreien.“

Der Schuppige legte den Kopf schief. „Wie? Ein uneigennütziger Wunsch? So etwas gab es noch nie! Da bin ich fast verpflichtet, diesen zu erfüllen!“

„Wirklich?“ Voller Freude machte ich einen Sprung in die Luft und stieß einen Schrei aus, der selbst den Drachen kurz zucken ließ.

„Du hast mein Wort! Doch sag, welche Wesen möchtest du befreien? Doch nicht etwa diese Gargoyles. Diese dämlichen Dinger treiben nur Schabernack und gehen magischen und nichtmagischen Geschöpfen jeglicher Art dermaßen auf die Nerven. Nicht umsonst wurden sie vor vielen vielen Jahren verflucht, um versteinert dazusitzen und Spott über sich ergehen lassen zu müssen. Ihr Vater, Le Gargouille, der ebenfalls diesem Fluch erlag, sollte dafür bezahlen, doch seltsames Gesindel in die Welt geschickt zu haben. Ihre Erschaffung war so unnötig wie Schuppenjucken. Ich stehe auf Kriegsfuß mit diesen widerlichen Kümmerlingen! Ich hoffe doch sehr, dass du nicht ausgerechnet sie erwecken möchtest.“

Geschockt blickte ich ihn an. Meine Befürchtung hatte sich bewahrheitet: Der Drache würde mir wohl nicht helfen, wenn ich ihm offenbarte, wofür ich dieses magische Wasser benötigte.

„Nein, natürlich nicht. Ich kenne nicht einmal Gargoyles“, log ich.

„Dein Glück!“, grunzte der Drache.

„Ich will all die kleinen Elfen und anderen Wald-Wesen erwecken, die durch die Rücksichtslosigkeit der Menschen schwer leiden mussten.

„Verstehe, dann steig auf meinen Rücken. Ich bringe dich zu dem Ort, an dem es dieses Wasser gibt. Doch sei dir bewusst, dass schon viele Menschen vor dir mit einer solch großen Verantwortung nicht umgehen konnten und schlichtweg verrückt wurden. Du wärst nicht der erste Winzling, den ich gefressen habe“, grollte der Drache.

„Gefressen?“, stieß ich panisch aus, doch da waren wir schon hoch in der Luft. Die mächtigen Schwingen trugen uns wie Segel.

Min Herz schlug so wild, dass ich mich kaum noch halten konnte.

Gargoyle-Versammlung 03: Apokalypsenheld

„Nicht so schnell!“, rief ich dem Drachen zu, auf dessen Rücken ich saß, während das gewaltige Fabelgeschöpf durch die Wolken raste.

„Fliege ich langsam, so verlieren wir kostbare Zeit. Ich dachte, du hättest es eilig, Winzling“, spottete der Drache und flog unbeeindruckt weiter. Ihm schien diese Geschwindigkeit vertraut zu sein, doch mir war es sehr unwohl. Vor allem, da wir uns so weit oben befanden, dass sich die Wolken nur knapp über uns befanden und wir teils sogar durch sie hindurchflogen. Wie durch ein Wunder hatte ich keine Probleme mit dem Atmen, doch das wunderte mich nicht. Schließlich saß ich auf einem lebendigen Drachen, den die meisten Menschen höchstens aus Büchern und anderen Geschichten kannten. Nein, es wunderte mich gar nichts mehr.

„Halte dir lieber die Augen zu, Winzling!“, wies mich der Drache an.

„Wieso das denn?“, wollte ich irritiert wissen, Meine Stimme zitterte leicht.

„Schließe einfach die Augen“, wandte der Drache ein, „und frage nicht lange. Wir durchqueren ein magisches Portal ins Andersland, wo wir das magische Wasser finden werden. Doch sobald wir das Portal durchfliegen, tritt gleißend helles Licht auf, das du auf keinen Fall in deine empfindlichen Menschenaugen bekommen darfst.“

„Was würde sonst passieren?“

„Du wirst blind. Von der einen auf die andere Sekunde ist für immer Nacht! Zappenduster!“

Panisch riss ich beide Augen weit auf, dann presste ich mir schützend beide Hände vors Gesicht, damit ich schon Sternchen sah.

„Achtung, es geht los!“, warnte mich der Drache. Als wir das Portal durchquerten, blies uns abwechselnd warme und eisige Luft entgegen. Durch meine Handflächen hindurch konnte ich die Helligkeit sehen, die uns umgab.

Dann wurde es angenehm warm und der Drache landete. „Wir sind da“, brummte er.

Mit weichen Knien stieg ich ab und stand zitternd im Gras. Ich blickte mich um: Eine malerisch schöne Landschaft mit kräftigen Farben lag vor uns. Auf einer Wiese standen Einhörner, die friedlich grasten.

„Wo sind wir hier?“, erkundigte ich mich, während ich mich weiterhin staunend umblickte.

„Im Andersland. Hier finden alle Fabelwesen Zuflucht.“

„Und das Portal“, hakte ich nach, „wieso muss ich die Augen schließen und du nicht? Kannst du in dem hellen Licht sehen?“

„Du irrst, Winzling. Ich habe ebenfalls meine Augen fest geschlossen gehalten. Wir Fabelwesen reagieren nur nicht so stark wie ihr Winzlinge auf das Licht. Uns erschöpft es eine Zeit lang – wie eine Grippe – euch schadet es lebenslang.“

„Du hast blind den Weg gefunden?“

„Im Portal geht es nicht darum, zu sehen. Hier leitet dich allein der Glaube daran den Weg. Dazu muss man nichts sehen.“ Der Drache schloss seine Augen. „Einmal“, setzte er an, „als ich noch ein junger und unerfahrener Drache war, bin ich mit offenen Augen hindurchgeflogen.“

„Und was hast du gesehen?“

„Nichts. Alles um mich herum war nur weiß. Kein Weg, keine Landschaft, einfach nur gleißendes Licht.“

„Und wie findest du den Eingang ins Portal?“

„Das Portal findet uns. Wenn ein Fabelwesen ein Portal dringend braucht, eröffnet es sich. Sonst könnten Land- und Wasserwesen unmöglich ins Andersland gelangen, wären sie nur so hoch oben in der Luft. Allerdings sind wir Fabelwesen angehalten, diese Portale nur zu durchqueren, wenn kein menschlicher Winzling oder ein anderes nichtmagisches Wesen in der Nähe ist. Kommen nämlich sie in dieses Portal, hat es schlimme Konsequenzen.“

„Was passiert dann?“

„Du hast viele Fragen“, stöhnte der Drache. „Nun gut, nur noch diese Frage, dann werden wir das magische Wasser suchen.“ Er stieß eine kleine Flamme in den Himmel. „Gerät ein nichtmagisches Wesen in eines der Portale, ist es dazu verdammt, bis an sein Ende darin herumzuirren. Außerdem erblindet es nach kurzer Zeit – so ist sein Ende nicht mehr lange. Außerdem haben Luftportale keinen Boden. Da würde ein unglückliches Wesen einfach stürzen. Endlos nach unten, nie einen Boden erreichend.“

„Wie schrecklich!“

„Du sagst es. Darum sind wir so vorsichtig, dass wir ungesehen die Portale eröffnen. Allerdings gibt es einige unvorsichtige Geschöpfe. Stellen wie das Bermudadreieck sind berüchtigt dafür.“

„Dort, wo all die Schiffe und Flugzeuge auf unerklärliche Weise verschollen sind?“, erinnerte ich mich.

„Genau: Auf unerklärliche Weise. Diese armen Seelen irren bis zu ihrem Ende in diesen Portalen umher. Schiffe gibt es darin mehr als ich zählen kann. Darum durchquere ich so selten Wasserportale, was ohnehin viel schwerer für mich ist, da ich ein Wesen des Feuers und der Luft bin. Flugzeuge hingegen stürzen einfach irgendwann ab, wo sie dann ins Nichts der Portale fallen.“

„Gibt es einen Weg, um aus diesen Portalen noch zu entkommen“, erfragte ich hoffnungsvoll.

„Ich sagte, nur noch eine Frage. Diese habe ich dir beantwortet. Du weißt ohnehin schon zu viel für einen Menschling. Niemand soll davon erfahren, der nicht berechtigt ist.“

„Und warum hast du mir das alles erzählt?“

„Weil ich dir vertraue!“, gestand der Drache, was mein Herz fast vor Freude hüpfen ließ. Der Drache vertraute mir!

„Nun komm, das Wasser findest du dort!“ Er deutete mit seiner Kralle in eine Richtung. Als ich dorthin blickte, erkannte ich einen großen Felsen, aus dem eine Quelle entspringen zu schien. Entschlossen machte ich mich auf den Weg.

„Ich könnte dich fliegen“, bot der Drache an. „Mit deinen mickrigen Füßlein bist du sonst noch morgen mit laufen beschäftigt.“

Dankbar nahm ich das Angebot an und kletterte auf den beschuppten Rücken. Der Drache spreizte seine Flügel und erhob sich wieder in die Luft. An Land noch träge und schwerfällig, glitt er wieder anmutig und scheinbar schwerelos durch die Luft, als sei er eine Feder.

„Wir sind da“, erklärte er und landete nahe der Quelle. Schnell holte ich ein Behältnis hervor und füllte dies mit dem magischen Wasser.

„Ist das Wasser trinkbar?“, wollte ich wissen.

„Nicht für dich!“, warnte mich der Drache. „Du solltest es auch nicht anfassen!“

„Wieso, was passiert sonst?“

„Bist du nicht krank, versetzt es dich für mehrere Stunden in tiefen Schlaf.“

Erschrocken über diese Tatsache zog ich ruckartig die Flasche zurück. Mit Schrecken spürte ich, wie etwas des Wassers überschwappte und mir über meine Hand lief. Augenblicklich trübte sich meine Seicht und ich sank zu Boden.

„Winzling, aufwachen!“, hörte ich die Stimme des Drachen. Er stieß mich mit seiner gewaltigen Schnauze an und schnaubte.

„Was … was ist passiert?“, fragte ich, noch leicht benommen.

„Du hast das Wasser berührt. Ich hatte dich ausdrücklich gewarnt!“, motzte der Drache.

„Allerdings reichlich spät!“, beklagte ich mich.

„Hättest du es sonst gemacht?“ Er schien mich mit seinem Blick durchbohren zu wollen.

„Nein“, gestand ich mit hängendem Kopf. „Aber egal. Danke, dass du mich wieder hergebracht hast.“

„Keine Ursache“, winkte er ab. „Aber nun sag, was hast du wirklich mit dem Wasser vor? Ich sagte zwar, dass ich dir vertraue, doch ich habe eine Befürchtung, wofür du es einsetzen willst. Dein Herz, Winzling, scheint mir zu gutmütig zu sein. Ich hoffe schwer für dich, dass du nicht die Gargoyles entfluchen möchtest.“

„Nein“, stieß ich zu schnell aus, „wie kommst du darauf?“

Wortlos deutete er mit seinem Kopf auf das Schloss. „Das“, sagte er wissend, „ist die Todesstätte von Le Gargouille. Sicher haben dich die kleinen Gargoyles dazu angestiftet, ihnen das Wasser des Lebens zu bringen. Sie setzen allen diese Flausen in den Kopf. Dennoch: Da du selbstlos und in guter Absicht gehandelt hast, will ich dir helfen und dich bei deinem Vorhaben unterstützen.“

„D-danke“, brachte ich überrascht hervor. Verblüfft darüber, dass er mir dennoch helfen wollte.

„Sag an, Winzling, wen willst du erwecken?“

„Du hattest recht, ich habe das Wasser des Lebens für die Gargoyles geholt. Sie haben mich darum gebeten.“

„Oh, du ahnungsloser Winzling, lass sie versteinert. Was sie dir verheimlicht haben, was noch in der alten Schrift des Alchemisten steht, dass derjenige, der einen Gargoyle wieder entflucht, der Auslöser für eine Apokalypse wird. Sei also gewarnt. Hast du noch immer die Absicht, diese kleinen zu Stein gewordenen Biester zu erwecken, so löst du ein Artensterben unter den Fabelwesen aus, das sich gewaschen hat. Viele Arten werden massiv an Artgenossen verlieren, der Bestand wird sinken, manche werden gar ausgerottet. Es gibt ohnehin schon viel zu wenige Fabelwesen mehr auf dieser Welt, aus der jegliche Magie verschwunden ist. Also sei klug und entscheide weise: Willst du ein paar Gargoyles retten oder die ganze Welt der Fabelwesen in den Untergang stürzen.“

Mit großen Augen blickte ich den Drachen an, dessen Blick abwartend auf mir ruhte. „Das … das wusste ich nicht. Wenn das so ist, werde ich auf keinen Fall auch nur den kleinsten Tropfen an einen der versteinerten Gargoyles vergeben.“

„Sehr vernünftig“, freute sich der Drache. „Dennoch kannst du mit dem Wasser des Lebens Gutes tun.“

„Wie genau?“

„Nichtmagische Tiere können damit geheilt werden. Gibst du allen kranken Tieren einen Tropfen, so kannst du ihr Leid mindern und viele von ihnen wieder heilen.“

„Das ist eine wundervolle Idee“, fand ich und nickte begeistert. Ja, ich wollte allen Tieren in Not helfen und sie alle retten.

„Winzling, ich bin stolz auf dich. Du hast selbstlos dich dazu entschlossen, Gutes zu tun. Du hast eine Apokalypse verhindert. Du bist ein Held. Ich werde die Nachricht über dich überall verbreiten. Fabelwesen aus aller Welt werden dich aufsuchen und deine Hilfe ersuchen. Du hast das magische Wasser. Du kannst ihnen helfen. Fühlst du dich dieser Verantwortung gewachsen?“

„Ja!“, sagte ich ohne darüber nachzudenken. Wenn sich mir die Möglichkeit bot, vielen Tieren und Fabelwesen zu helfen, wollte ich sie auf jeden Fall nutzen. Schließlich verursachten die Menschen viel zu viel Leid, worunter alle anderen Geschöpfe dieser Welt leiden mussten. So konnte ich meinen Beitrag dazu leisten, um die Welt ein kleines Stück besser zu machen.

„Das freut mich zu hören.“ Der Drache faltete er seine Flügel auseinander und flog davon. Lange sah ich ihm nach, wie er immer kleiner wurde und schließlich zwischen den Wolken verschwand.

„Ich werde den magischen und nichtmagischen Geschöpfen dieser Welt helfen. Egal, wegen was sie zu mir kommen werden“, schwor ich mir.

Die Flasche mit dem Wasser des Lebens fest an meine Brust gedrückt, machte ich mich auf den Weg nach Hause. Die Gargoyles wollte ich nicht mehr sehen.

Zaubergutschein 01

Eigentlich war ich der Überzeugung, nur ein leerer Briefkasten ist ein guter Briefkasten. Doch was ich heute darin fand, war so ganz und gar nicht normal …

Wie jeden Montagmorgen leerte ich meinen Briefkasten und holte die Post ins Haus. Am Esstisch überflog ich, während ich frühstückte, die Briefe.

„Post vom Finanzamt, Post zur Stromabrechnung“, murmelte ich missmutig vor mich hin. Diese Art von Briefen verdarb mir wöchentlich den Morgen. Sie schafften es, meine ganze Energie und Freude aus mir herauszusaugen wie ein Vampir, der den gesamten Lebensinhalt raubt. Da ließ mich ein Brief stutzen. Er unterschied sich nur minimal von den anderen, doch es fiel mir sofort auf: er war beige. Die Anschrift war mir unbekannt, auch von der Firma hatte ich bisher noch nie etwas gehört. Neugierig schob ich die übrige Post beiseite und öffnete den beigen Umschlag.

GUTSCHEIN sprang mir direkt das erste Wort ins Auge. Fast hätte ich den Brief wieder weggelegt, denn diese Lotto- und Werbeversprechen von vielem Geld war ich schon lange leid. Doch dann überflog ich den Inhalt und staunte. Es war tatsächlich ein Gutschein. Allerdings nicht von einem gewöhnlichen Laden. Nein, der Gutschein war für einen Zauberladen. Was es dort wohl alles gab? Augenblicklich hatte ich viele Bilder im Kopf. Magische Zauberkugeln, fliegende Besen oder tierische Begleiter.

Voller Vorfreude und Neugier zog ich mich an und beschloss, den besagten Laden aufzusuchen. Was es wohl alles gab?

Meine Knie zitterten, als ich mich mit dem Blick auf mein Handy durch die Stadt leiten ließ. Links, rechts, dann wieder geradeaus. Nochmal links, links, geradeaus und rechts. Nein, verlaufen! Zurück, links – und da stand ich vor meinem Ziel: Ein unscheinbar wirkendes Haus, das weder Schaufenster noch Licht im Inneren hatte stand direkt vor mir. Unsicher prüfte ich die Hausnummer, doch es war die besagte Adresse. Mit einem Griff in meine Hosentasche ging ich sicher, dass es diesen Gutschein wirklich gab. Nicht, dass ich das alles nur geträumt hatte.

Mit mulmigem Gefühl drückte ich auf den Klingelknopf. Drinnen rasselte es ohrenbetäubend. Die Klingel war das typische Schreimodell, das auch meine Oma besaß.

Lange tat sich nichts. Als ich schon resigniert umkehren wollte, ging die Türe quietschend einen Spalt weit auf und eine kleine, grauhaarige Frau mit großen, falschen Zähnen blickte mich mit zusammengekniffenen Augen hinter ihrer dicken Brille an, die ihre Augen wie eine Lupe vergrößerten. Erschrocken von diesem Anblick taumelte ich einen Schritt zurück, ehe ich mich wieder fasste.

„Sie wünschen?“, krächzte die Alte.

„Ich“, setzte ich unsicher an, „habe einen Gutschein.“

„Zeig ihn mir!“, wies sie mich streng an.

Ich zog das besagte Papier aus meiner Hosentasche und reichte es ihr. Schneller als ich es ihr in ihrem hohen Alter zugetraut hätte, riss sie mir den Zettel aus der Hand und schlug die Tür vor meiner Nase zu.

„He, das ist mein Gutschein!“, brüllte ich entsetzt und perplex zugleich. „Wieso muss das ausgerechnet mir passieren?“

Da öffnete sich die Türe wieder und die Alte winkte mich herein. „Er ist echt. Kommt herein, junger Herr.“ Gebückt lief sie mir voraus.

Der Gang, durch den sie mich führte, war düster und Spinnweben zierten die Wände. Ein kühler Luftzug ließ mich frösteln, doch ich ließ mir nichts anmerken. Tapfer folgte ich ihr und war erstaunt, wie schnell sie doch gehen konnte. Ebenso erstaunt war ich, wie lange wir schon liefen. Wie lang war dieser Gang?

In diesem Moment stieß die Alte eine große Tür auf, die mir den Blick in eine gewaltige Halle gewährte. Staunend blickte ich mich um. Regale und Tische mit den unterschiedlichsten Gegenständen, die an okkulte Feiern und Rituale erinnerten, bis hin zu Zauberstäben und sprechenden Kleintieren in großen Käfigen, waren zu sehen.

„Unfassbar. Wie … wie passt das alles in dieses Haus?“, fiel mir nun auf. Denn von außen konnte unmöglich ein so großer Raum sich in diesem alten Gemäuer verbergen.

„Magie“, meinte die Alte knapp, dann blickte sie mich eindringlich an. „Du bist auserwählt, du hast einen Gutschein bekommen. Nicht viele Menschen bekommen einen solchen Gutschein. Nur Menschen, die fest an das Magische dieser Welt glauben und dies weder beanspruchen oder besitzen wollen, sondern schützen und retten wollen, sind dazu befugt, einen solchen Gutschein zu erhalten. Das ist die größte Auszeichnung, das größte Geschenk, das man als normalsterbliches Ungesicht – so nennen wir die Menschen, die der Magie nicht fähig sind – erhalten kann. Mit diesem Gutschein darfst du dir hier etwas aussuchen.“

Nicht in der Lage, eine vernünftige Antwort zu geben, glotzte ich die Alte nur an. Ich konnte es nicht glauben, wieso gerade ich solch ein Geschenk bekommen sollte. Natürlich glaubte ich an Magie und wollte sie um jeden Preis beschützen und vor Menschen mit bösen Absichten verbergen, doch dass ich nun mir einen magischen Gegenstand aussuchen konnte, war ein Geschenk, das ich kaum begreifen konnte.

„Lass dir Zeit bei deiner Wahl“, riet mir die Alte. „Ich weiß, wie schwer es für dich sein muss.“

Langsam lief ich die Gänge ab, die Alte mir stets auf den Fersen, und begutachtete alles voller Neugier.

Nach knapp einer Stunde hatte ich mich endlich entschieden: Es sollte ein Zauberstab werden.

„In Ordnung. Du darfst ihn dir nehmen. Aber beachte, dass niemand von seiner Existenz erfahren und nur Gutes damit gezaubert werden darf. Missachtest du diese Regel, so wird dir Schlimmes widerfahren. Frage lieber nicht, was es sein wird. Nutzt du ihn mit Bedacht, so wird dir nichts geschehen. Er wird dir ein nützlicher Helfer sein, Gutes zu tun.“

„Hab tausend Dank, liebe Frau“, bedankte ich mich voller Freude.

„Nun musst du erst einmal den Umgang damit erlernen.“ Sie wandte sich um und reichte mir einen dicken Wälzer. „Dort steht alles drin, was du wissen musst. Viel Erfolg.“

Und noch ehe ich ein weiteres Wort sagen konnte, stand ich mit dem Zauberstab in meiner linken und dem Buch in meiner rechten Hand wieder draußen auf der Straße vor der Eingangstür. Unscheinbar, als befände sich dahinter bloß ein ganz gewöhnliches Wohnhaus.

Zaubergutschein 02: Gedächtnisverlust

Ein harter Stoß riss mich zu Boden. Ich begriff nicht, was geschehen war. Benommen kam ich wieder zu mir. Doch als ich mich umblickte, waren die Straßen menschenleer.

„Wo … wo sind denn alle?“, murmelte ich verwundert. Mir war nicht klar, was da gerade geschehen ist. Ich setzte mich auf eine Parkbank und versuchte mich zu sammeln.

Der Reihe nach, beruhigte ich mich. Was war bisher geschehen? Ich habe einen Brief bekommen, in dem sich ein Gutschein zu einem Zauberladen befunden hatte, dann hatte ich diesen aufgesucht und einen Zauberstab aussuchen dürfen. Ein Blick in meine Hand zeigte mir, dass es nicht nur Einbildung gewesen war. Ich hielt einen etwa zwanzig Zentimeter langen Stab in der Hand, der mit magischen Symbolen und Zeichen verziert war. Dieselben Zeichnungen befanden sich auf dem Buch, das ich ebenfalls bekommen hatte.

„Fachbuch für Zauberlehrlinge“, stand da als Überschrift. Neugierig schlug ich es auf und begann die erste Seite zu lesen. Denn dass plötzlich der gesamte Park, die ganzen Straßen menschenleer waren, wunderte mich sehr. Ich begriff nicht, wie das passieren konnte. War ich daran Schuld? Ich hoffte nicht, denn die Alte aus dem Zauberladen meinte doch, ich dürfe niemandem mit meinem Zauberstab schaden. Galt das auch, wenn ich versehentlich etwas zauberte? War das überhaupt möglich? Doch bevor ich voreilige Schlüsse ziehen konnte, vertiefte ich mich in das Zauberbuch, um vielleicht dort eine Antwort auf meine Fragen zu finden.

Nicht allen Menschen ist es vergönnt, magische Kräfte zu besitzen und zu beherrschen. Diejenigen, die das Glück haben und es sich zu eigen nennen können, sind dazu verpflichtet, diese Magie weise einzusetzen, anderen damit zu helfen und die Magie selbst zu schützen. Dazu gehören auch Fabelwesen und die Bewahrung anderer magischer Gegenstände, die Ungesichter nie zu Gesicht bekommen dürfen. Allzu leicht können sie hinter Unbekannten eine Gefahr vermuten und wollen diese vernichten. Was der Mensch nicht kennt, fürchtet er. Was der Mensch fürchtet, das will er vernichten.

Geschockt schlug ich das Buch wieder zu. Konnte ich also wirklich zaubern? Diese Macht musste ich um jeden Preis geheim halten. Ich wusste, wie seltene Tiere gejagt und als Trophäe getötet wurden. Sicher verhielt es sich ebenso mit der Magie. Was der Mensch nicht kennt, fürchtet er. Was der Mensch fürchtet, das will er vernichten. Das ließ mich nachdenken. Wieso waren Menschen bloß so? Ich verstand es nicht.

Den Menschen ging es meist nur um Besitz, Macht und Ansehen, was letztlich aus der Magie und den darunter Leidenden geschieht, ist ihnen vollkommen egal. Solange sie sich selbst stärken und die anderen unterdrücken und schwächen können, sind sie glücklich. Nein, ich musste diese Gedanken aus meinem Kopf bekommen! Ich fand es grauenvoll, über so etwas nachzudenken, obwohl es die traurige Wahrheit war.

Entschlossen schlug ich das Buch erneut auf und überflog das Inhaltsverzeichnis.

Kapitel 01: Grundlagen
Kapitel 02: Was Magier alles wissen müssen
Kapitel 03: Der bedachte Umgang mit Magie
Kapitel 04: Der Schutz durch die Magie
Kapitel 05: Gefahren durch die Magie
Kapitel 06: Unfälle durch Magie
Kapitel 07: Strafen und Missbrauch von Magie

Wie ich es bereits erwartet hatte, war das Kapitel „Strafen und Missbrauch von Magie“ leider am dicksten. Sicher gab es dort am meisten zu berichten. Auf der Welt gab es schließlich genug machthungrige Ausbeuter, die nach Macht gierten, ohne jegliche Rücksicht zu nehmen.

Doch da ich ja ganz am Anfang stand und Gutes tun wollte, schlug ich das erste Kapitel, die Grundlagen, auf. Der Text war sehr interessant. Es gab viele Tipps und Hinweise, wie der Zauberstab richtig zu führen war, wie man Magie wirken ließ, ob sie laut gesagt oder nur gedacht angewendet wurde, … Diese und viele weitere grundlegende Dinge, über die ich mir noch nie Gedanken gemacht hatte.

So schlug ich mich durch dieses Übungskapitel durch und brachte mir die Grundlagen selbst bei. Blätter bewegen oder andere kleine Gegenstände verrücken klappte relativ schnell, doch ein Tier zu rufen oder eine Pflanze zu bewegen, gelang mir nicht.

Doch mein größtes Problem existierte noch immer: Die Stadt war menschenleer. Nichts und niemand war zu sehen. Ich wusste weder, an was es lag – war ich der Schuldige? – noch ob ich es wieder rückgängig machen konnte. Denn vom einen auf den nächsten Augenblick waren sie einfach alle gleichzeitig verschwunden. Alle außer ich. Ich hatte nicht die leiseste Ahnung, wie ich die Menschen wieder zurückbringen konnte … und ob ich das überhaupt wollte? Keine Menschen konnten schließlich keine Tiere quälen, doch nicht alle Menschen quälten Tiere. Also sollten auch nicht alle darunter leiden müssen.

Ich musste unbedingt etwas tun, um sie wieder zurückzubringen!

Zaubergutschein 03: Alles wieder auf Anfang

„Was habe ich getan?“ Geschockt blickte ich mich um.

Da vernahm ich eine Bewegung und ich fuhr herum. Hinter mir stand die Alte aus dem Zauberladen und guckte mich mit einem zahnlosen Grinsen an.

„Habe ich nicht gesagt, du sollst vorsichtig sein?“, tadelte sie mich belustigt.

„Das habe ich versucht“, gestand ich verzweifelt.

„Daran sieht man wieder: Zauberei ist kein Spielzeug für Unerfahrene. Darum sollten sie es nicht leichtfertig in die Hände bekommen, wenn sie dieser Verantwortung nicht gewachsen sind.“

„Das hilft mir jetzt auch nicht weiter“, klagte ich. „Kannst du mir nicht helfen.“

„Das kann ich tatsächlich. Ich bin nämlich eine gute Fee. Du hast einen Wunsch bei mir frei, den du gut überdenken solltest.“

„Du eine Fee?“ Ich musterte die Alte. „Sind Feen nicht jung und …“

„Schön?“, beendete sie meinen Satz. „Gewiss, aber auch Feen werden alt. Ich bin heute nur noch und.“

„Und was?“

„Früher war ich jung und schön, heute bin ich nur noch und“, kicherte sie, das wie ein Verstopftes Ofenrohr klang. „Das hat meine Mutter immer gesagt. Sie war alt wie ein Stein und sah auch so aus.“

„Aha.“

„Soll ich dir nun helfen?“, hakte sie ungeduldig nach. „Ich habe nicht den ganzen Tag Zeit.“

„Okay.“ Ich ging in mich und dachte nach, was ich mir wünschen sollte. Langsam nahm mein Wunsch Gestalt an und ich fasste ihn in Wörter, die mir wie Steine über die Zunge kamen.

„Nun denn, ich höre? Ein Wunsch, vergiss das nicht!“, erinnerte sie unnötigerweise.

„Das macht es ja so schwer“, fand ich. Am liebsten hätte ich alles wieder auf Anfang gewünscht und dann meine Zauberei perfektioniert. Doch beides ging leider nicht. So entschied ich mich für den schwereren, aber wie ich wusste, vernünftigeren Wunsch.

„Ich wünsche mir, dass du alles wieder auf Anfang setzt“, brachte ich es schließlich über die Lippen.

„Damit hätte ich nicht gerechnet. Ich bewundere dich“, lobte die Alte. Sie zückte einen Zauberstab und murmelte etwas Unverständliches vor sich hin. „Nun ist es getan. Fortan ist alles wie zuvor. Du bist nie in meinem Laden gewesen. Doch die Erinnerung daran möchte ich dir lassen. Es soll dir eine Lehre sein und auch eine Belohnung, mit dem Wissen über Zauberei und Magie zu leben. Du hast es verdient.“

„Hab vielen Dank“, freute ich mich.

Rings um waren wieder viele Menschen zu sehen. Sie spielten im Park mit einem Ball oder tobten mit ihren Hunden. Alles war wieder wie zuvor. Komplett ohne Magie, nicht besonders. Doch das genoss ich.

„Das hast du sehr gut gemacht“, lobte die alte Fee, dann wurden ihre Schemen langsam blasser und sie löste sich vor meinen Augen einfach auf. Die übrigen Nebel wurden vom Wind davon geweht.

Herzliche Grüße

Niklas B.

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